2019
9 JunGottesdienst als Begegnungsraum
In den letzten Jahrzehnten wurde in den Grundordnungen fast aller Landeskirchen die bleibende Erwählung Israels und die untrennbare Verbundenheit mit dem Judentum fest verankert. Und doch stellt sich bleibend die Herausforderung, ein bisher von wenigen Fachleuten und Engagierten getragenes Gespräch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anliegen dieser Broschüre ist daher, dass Impulse des jüdisch-christlichen Gespräches ihren Weg in unsere Gemeinden finden. Das Herzstück gemeindlicher Arbeit ist vielerorts der Gottesdienst. Deswegen liegt vor Ihnen der Ver- such, unsere Gottesdienste mit ihren liturgischen Elementen als Begegnungsraum von Judentum und Christentum kennenzulernen. Dabei ist uns einerseits ein Bewusstsein für unsere christliche Mitverantwortung für historische und gegenwärtige Judenfeindschaft wichtig. Die Arbeit gegen Antijudaismus ist eine der wichtigsten kirchlichen Aufgaben, da Antijudaismus die Negation des Evangeliums ist. Andererseits haben wir uns auf die Suche nach Ansätzen positiver Bezüge zwischen beiden Religionen gemacht. Denn wir glauben: Die Geschwisterlichkeit von Judentum und Christentum zu entdecken ist ein Prozess, der unserer Kirche gut tut. Ein Segen, dass Jesus Jude ist!
Gottesdienste, die sich der Arbeit gegenAntijudaismus verpflichtet wissen, stehenschnell in der Gefahr judenfeindliche durch judenfreundliche Bilder zu übertünchen. Das Problem ist hier nicht der positive Bezug auf das Judentum, sondern die mit der Idealisierung einhergehende Vereinnahmung. Immer wieder neu geht es so um den Versuch, wahrnehmen zu lernen und heute mit Jüdinnen und Juden so mitzuleben, dass sich die Wirklichkeit der Instrumentalisierung versperrt. So kann Schritt für Schritt ein Bewusstsein dafür entstehen, wann das Judentum lediglich als Folie dient und christliche Identitätsbildung auf Kosten des jüdischen Gegenübers geschieht und wann wir einander wirklich begegnen.
Traditioneller christlicher Absolutismus würde auf diesem Wege überwunden werden.
Die Texte durchzieht der Versuch des Einübens einer demütigen Theologie, die das Hören auf Israel ernst nimmt und so ernsthaft dialogisch wird. Hier kann die Schönheit des Mit-Seins für den evangelischen Gottesdienst entdeckt werden. Wir sprechen im Gottesdienst oft geliehene Worte, „die vom Leben und von den Hoffnungen vieler Generationen erfüllt und mit den Tränen vieler Generationen gewachsen sind. Es sind Worte, die zunächst an andere Menschen gesprochen sind. Wir sind weder ,Israel‘ noch sind wir etwa die ,Korinther‘ oder die ,Galater‘. Aber wir können uns in den an sie gerichteten Worten mitangesprochen fühlen und sie mitsprechen. Auch so können wir zum Ausdruck bringen, dass wir zu Gott gehören, aber dass Gott nicht uns gehört“.1 Traditioneller christlicher Absolutismus würde auf diesem Wege überwunden werden. In liturgischer Sprache ginge es dann darum, hoffend und nicht gewiss zu formulieren, von der Unerlöstheit der Welt auszugehen und in gemeinsamer Sendung mit dem Judentum den Schalom Gottes in sozialkritischer Perspektive für die Gegenwart zu entfalten.
- Ebach, Jürgen: Das Alte Testament als Klangraum des Evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2016, S. 175. ↵