Interviewprojekt zur Geschichte der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag

Vorwort

Die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag ist die erste jüdisch-christliche Gesprächsgruppe, die nach der Shoa entstanden ist. Sie besteht seit 1961 und trifft sich jährlich zu einer gemeinsamen Tagung und darüber hinaus zu konkreten Anlässen in kleineren Untergruppen. Ihre Aufgabe besteht in einem kontinuierlichen Gespräch zu tagesaktuellen wie theologisch-grundlegenden Themen, durch welches sie in die Gesellschaft in Gemeinden und öffentlichem Handeln hinein wirken kann. Außerdem ist sie maßgeblich für das Programm des „Zentrums Juden und Christen“ bei den Deutschen Evangelischen Kirchentagen verantwortlich. Im Rahmen ihrer Arbeit als Assistenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages haben Ansgar Gilster (2012/2013) und Ann-Kathrin Kutzenberger (2014/2015) unter ehrenamtlicher Mitarbeit von Milena Hasselmann (Mitglied der AG Juden und Christen seit 2013) Interviews mit vier zentralen Personen der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen geführt: Edna Brocke, Martin Stöhr und Peter von der Osten-Sacken. Ausgangspunkt des Projektes war die Frage nach der individuellen biographischen Motivation zur Mitarbeit im jüdisch-christlichen Dialog. Neben den Anfängen der jeweiligen Mitarbeit und den biographischen Wendepunkten kam dabei immer auch die Wahrnehmung der AG über die Jahrzehnte zur Sprache. In einer kleinen Auswahl kann auf den folgenden Seiten ein Eindruck von diesem Projekt gewonnen werden. Aus jedem Interview haben wir die interessantesten Passagen ausgewählt. Weitere Interviews sind geplant. Wir danken allen Interviewten an dieser Stelle noch einmal herzlich für Ihre Zeit und Ihre große Offenheit, die Sie uns in den Gesprächen entgegengebracht haben!

Interview mit Aline Seel und Prof. Dr. Micha Brumlik

1961 gründete sich die AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Über Entwicklungen und Herausforderungen für den christlich-jüdischen Dialog sprechen der ehemalige jüdische Vorsitzende der AG, Micha Brumlik, und Pfarrerin Aline Seel, Mitglied im Vorstand.

Interview mit Dr. h.c. Edna Brocke

Edna Brocke wurde in Jerusalem geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Anglistik und Judaistik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seit Dezember 1968 lebt sie in Deutschland. Sie war lange Lehrbeauftragte für Themen des Judentums an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist es zur Zeit (jeweils im SoSe) an der Universität Essen-Duisburg. Seit Anfang der 1970er Jahre bis 1991 war sie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. 17 Jahre davon war sie zusammen mit Martin Stöhr im Vorstand der AG.

Seit 1971 ist sie Mitglied im Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. 1986 war sie Mitbegründerin der theologischen Zeitschrift „Kirche und Israel“. Von 1988 bis März 2011 leitete sie die Begegnungsstätte Alte Synagoge Essen.

Interview zwischen Dr. h.c. Edna Brocke und Ann-Kathrin Kutzenberger:

Zum Kirchentag bin ich gekommen „wie die Jungfrau zum Kind“. Es war sehr merkwürdig. Ich bin erst im Dezember 1968 in die Bundesrepublik gekommen. Ich weiß nicht mehr, wer damals initiativ geworden war, aber jemand hatte meinen damaligen Mann und mich zum Ökumenischen Pfingsttreffen 1971 in Augsburg eingeladen.. Ich wusste nicht, was ein Pfingsttreffen ist. Ich wusste nicht, was ein Kirchentag ist. Ich wusste nicht was „Ökumene“ ist, ich wusste gar nichts. Aber über das Christentum wusste ich recht viel, weil ich als Schülerin mit 17 Jahren – allein aus Neugier – nach Jerusalem zu einer christlichen Missionsgesellschaft gefahren bin und dort um ein Neues Testament auf Hebräisch gebeten hatte.
[…]
Daraus ist eine hochspannende Erfahrung geworden, zumal ich auf diesem Weg auch viele interessante Menschen kennengelernt habe. Christen, aber auch zwei Juden, die zum Christentum konvertiert waren.
Mit diesem Vorwissen bin ich – zusammen mit mein katholischen (deutschen) Mann zum Pfingsttreffen nach Augsburg gekommen ohne die aktiven Personen zu kennen. Wir wurden für den darauffolgenden Februar auch nach Arnoldshain eingeladen zur jährlichen Sitzung der AG. Einer ihrer agilen und aktiven Mitglieder war Rabbiner Robert Raphael Geis. Mit ihm und seiner Frau haben mein Mann und ich uns damals sehr gut verstanden. Am nächsten Morgen ist Rabbiner Geis bei der Sitzung aufgestanden und schlug mich für eine Bibelarbeit vor. Ich sagte damals: „Das ist ja reizend, aber was ist eine Bibelarbeit?“
Geis schlug weiterhin vor, dass ich diese Bibelarbeit zusammen mit Helmut Gollwitzer halten solle, den ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht kannte. Mit der Zeit haben sich diese Fragen geklärt. Gollwitzer schlug an seiner Stelle einen Pfarrer aus Starnberg, Gerhard Bauer, vor, mit dem zusammen wir diese Bibelarbeit vortragen sollten. Beim ersten Treffen eröffnete ich Pfr. Bauer, dass ich nicht wisse, was eine Bibelarbeit ist, und schlug daher vor, sie im Dialog zu führen. Das war für Pfr.  Bauer eine seltsame Vorgehensweise, für den eine Predigt die übliche Form war.Diese „neue“ Form war ihm jedoch durchaus einsichtig. Er hat sich intensiv darauf eingelassen und unsere erste gemeinsame Dialogbibelarbeit fand 1973 unter der Losung „nicht vom Brot allein“ in Düsseldorf statt.
[…]
So begann die erste Dialogbibelarbeit. Trotz geringer Besucherzahl beim Düsseldorfer Kirchentag, stieß unser Versuch auf großes Interesse. Daraus hat die AG den Schluss gezogen, diese Form auch beim nächsten Kirchentag zu wiederholen . So ist daraus – für uns – beide eine langjährige Tradition der Zusammenarbeit geworden.
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Leider ist Rabbiner Geis an Schawu‘ot 1974 verstorben. Obwohl er ein richtiger Linker war – was ich nie war, ich war immer eine Liberale –, haben wir beide uns (auch und gerade theologisch) sehr gut verstanden. Im Politischen war er eine Art Brücke zwischen vielen der linken Protestanten in dieser AG und den wenigen, die nicht mit diesem Mainstream mitliefen . Vielleicht war es ihm gegeben, diese Funktion einzunehmen, weil er eine klare Autorität in der Gruppe hatte. Er war eine Persönlichkeit, die den Raum füllte. Er war immer erkennbar präsent – auch wenn er schwieg.
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Leider ist Rabbiner Geis an Schawu‘ot 1974 verstorben. Obwohl er ein richtiger Linker war – was ich nie war, ich war immer eine Liberale –, haben wir beide uns (auch und gerade theologisch) sehr gut verstanden. Im Politischen war er eine Art Brücke zwischen vielen der linken Protestanten in dieser AG und den wenigen, die nicht mit diesem Mainstream mitliefen . Vielleicht war es ihm gegeben, diese Funktion einzunehmen, weil er eine klare Autorität in der Gruppe hatte. Er war eine Persönlichkeit, die den Raum füllte. Er war immer erkennbar präsent – auch wenn er schwieg.
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Leider ist Rabbiner Geis an Schawu‘ot 1974 verstorben. Obwohl er ein richtiger Linker war – was ich nie war, ich war immer eine Liberale –, haben wir beide uns (auch und gerade theologisch) sehr gut verstanden. Im Politischen war er eine Art Brücke zwischen vielen der linken Protestanten in dieser AG und den wenigen, die nicht mit diesem Mainstream mitliefen . Vielleicht war es ihm gegeben, diese Funktion einzunehmen, weil er eine klare Autorität in der Gruppe hatte. Er war eine Persönlichkeit, die den Raum füllte. Er war immer erkennbar präsent – auch wenn er schwieg.
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Leider ist Rabbiner Geis an Schawu‘ot 1974 verstorben. Obwohl er ein richtiger Linker war – was ich nie war, ich war immer eine Liberale –, haben wir beide uns (auch und gerade theologisch) sehr gut verstanden. Im Politischen war er eine Art Brücke zwischen vielen der linken Protestanten in dieser AG und den wenigen, die nicht mit diesem Mainstream mitliefen . Vielleicht war es ihm gegeben, diese Funktion einzunehmen, weil er eine klare Autorität in der Gruppe hatte. Er war eine Persönlichkeit, die den Raum füllte. Er war immer erkennbar präsent – auch wenn er schwieg.
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Leider ist Rabbiner Geis an Schawu‘ot 1974 verstorben. Obwohl er ein richtiger Linker war – was ich nie war, ich war immer eine Liberale –, haben wir beide uns (auch und gerade theologisch) sehr gut verstanden. Im Politischen war er eine Art Brücke zwischen vielen der linken Protestanten in dieser AG und den wenigen, die nicht mit diesem Mainstream mitliefen . Vielleicht war es ihm gegeben, diese Funktion einzunehmen, weil er eine klare Autorität in der Gruppe hatte. Er war eine Persönlichkeit, die den Raum füllte. Er war immer erkennbar präsent – auch wenn er schwieg.
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Die Gesamtstimmung war, wie in der damaligen Bundesrepublik überhaupt, eine Stimmung von unbewusster Einsicht – das klingt wie ein begrifflicher Widerspruch, Das Christentum – seine Theologie und politisch-ökonomische Macht – war einer der Hauptfaktoren, der die planmäßige Ermordung der Juden Europas überhaupt erst denkbar und dann auch durchführbar gemacht hat. Das gibt man natürlich nicht gerne zu, da es ja Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft haben müsste. Aus dieser emotionalen- oder eher Bauch-Erkenntnis heraus, gab es viele Mitglieder in der AG, die unbedingt etwas Gutes an Juden, für Juden oder mit Juden machen wollten. Ich machte mich damals wiederholt unbeliebt, weil ich etwas salopp sagte: „Hört auf mit dieser Umarmung, ich will keinen Erstickungstod erleiden!“
Es ging mir um den Anspruch auf ein Gespräch auf Augenhöhe, das auch inhaltlich von beiden Seiten thematisch und theologisch zu bestimmen wäre. Mir liegt der Wunsch nach Harmonie extrem fern. Das war und ist nicht mein Ziel. Genau das war sehr schwer zu vermitteln, weil das Christentum ganz anders strukturiert ist und Harmonie als „Wert“ betrachtet.
Zudem war ein großer Teil der christlichen Teilnehmer von dem Wunsch nach Vergebung und Versöhnung beseelt. Das hat oft zu Missverständnissen und Reibereien geführt. Ernsthafte Diskurse und harte Positionierungen klären am Ende vieles, auch – und gerade dann – wenn man am Ende verschiedener Meinung bleibt. Dies war m.E. der basso continuo in der AG über viele, viele Jahre.
Erst später kamen dann tiefere theologische Einsichten von Leuten, die verstanden hatten, dass es nicht nur, aber auch, um wirklich neue theologische Einsichten gehen muss. Osten-Sacken prägte damals eine der wichtigsten Vokabeln, als er den „theologischen Besitzverzicht“ einklagte. Wenn es einen Begriff gibt, der meiner Meinung nach ins Zentrum trifft, dann ist es dieser. Leider wurde Osten-Sackens Anliegen in Kreisen des Dialogs nicht wirklich aufgegriffen, bis heute, obwohl die Geschichte zeigt, wie recht er hat. Wie schon zu Marcions Zeiten entschied man kirchenpolitisch und nicht theologisch.
Das Christentum hat zwar – nicht freiwillig – jedenfalls in Europa auf ganz vieles verzichtet. Wie es in anderen Kontinenten aussieht ist im Moment nicht unser Gegenstand. Den aggressiven, militanten, militärischen, missionarischen Eifer legen heutzutage in Europa ausschließlich die Muslime an den Tag. Das Christentum ist heute in Europa nicht militant, nicht aggressiv, und versucht sich nicht mit Waffengewalt auszubreiten. Das haben die Kirchen auch mal gemacht. Sie haben darauf – m.E. nicht aus Einsicht verzichtet, sondern weil der Lauf der Dinge andere Entwicklungen hervorriefg.
[…]

Im Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken bin seit seiner Gründung 1971. Also im gleichen Jahr wie das Ökumenische Pfingsttreffen stattfand.
Meine Eindrücke und Erfahrungen in katholisch geprägten Kreisen sind – damals jedenfalls – grundlegend verschieden gewesen. Heute sind allerdings diese jeweiligen Milieus fast konturlos geworden, wie alles in der Gesellschaft überhaupt.
Das katholische Milieu war (und ist zuweilen auch heute noch) viel lockerer. Eine Fünf mal gerade sein lassen, Dinge (auch Kontroversen) mit leichtem Humor überbrücken zu wollen, erlebe ich eben ganz anders als eine gewisse Unerbittlichkeit, die ich bei der AG und im Kontext des Kirchentags erlebt habe. Genau damit bin ich nicht wirklich klargekommen.
Humorvoll würde ich sagen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ passt zu Luther. Ins Katholische würde ich es übersetzen: „Hier stehe ich, ich kann aber auch anders“

Ja, vielleicht Übereinkommen, vor allem aber Recht-haben. Auf mich wirkte es so missionarisch. Es gab nur entweder richtig oder falsch. In katholischen Milieus war inhaltliche Kritik oft zu hören  – an der einen oder anderen Position – aber sie wurde „geduldet“
[…]
Es ist eben ein anderer Modus. Es wird im Dialog nicht die Kategorie „Recht-haben“ eingeführt. Denn darum geht es m.E. im Dialog eben nicht. Das habe ich beim Kirchentag wiederholt erlebt. Vielleicht war es zeitbedingt oder personenbedingt. Ich weiß es nicht. Als 1991 der Zweite Golfkrieg begann, habe ich für mich die Konsequenzen gezogen.

Die Zeit steht für einen Wendepunkt in der Bundesrepublik insgesamt. Die Ostdeutschen waren zu dieser Zeit noch keine relevante Größe und zeigten ja traditionell kein positives Interesse an  Israel – Volk wie Staat.
Trotz des Verhaltens der Mehrheit der AG, die erst nach dem Niedergang der ersten Rakete von Saddam Husein in Ramat-Gan überhaupt bereit waren zuzuhören, haben wir den Kirchentag in der Alten Synagoge in Essen – wie zuvor geplant – durchgeführt. In einem Nachgespräch des erweiterten Vorstandes in Bonn traute ich mich in etwa folgendes zu sagen: Weder eine religiöse Identität noch eine politische Identität prägen dieses Land. Vielleicht gibt es hierfür auch gute Gründe – nach den zwei Kriegen in Europa, die von Deutschland ausgingen. Jedes, unverzichtbares Nationalgefühl wird erstickt. Vielleicht handelt es sich wirklich um „eine verspätete Nation“, aber vor allem um eine gebrochene. Auf Grund dieses Bruchs im nationalen Bewusstsein wurde Religion – die vor dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr eine Rolle spielte – als einziger Halt gesucht und gefunden. Da war ein Revival von Religiosität, wie er in Deutschland in den 30er Jahren verpönt war. Das Fehlen des Politischen in diesem Land führte zu einem nicht nachvollziehbaren Pazifismus. Dieser irrationale Pazifismus rief die Auseinandersetzungen um den Zweiten Golfkrieg her. , Die übergroße „Friedens“-demo, in Bonn an der ca. 250.000 Menschen teilnahmen, zeugt davon. Ich war auch in Bonn, bei der Gegendemonstration und wir waren vielleicht 200 Menschen.
[…]

So ist es.
[…]
Ich hatte das damals auch mit Martin Stöhr als Vorschlag besprochen, aber es fand keinen Anklang. Vielleicht war es auch zu früh. Ich denke, man hätte in der AG unterteilen müssen. Nicht alle theologischen Themen interessieren alle, die nicht ihrerseits Theologen sind. Was nicht heißt, jetzt bitte nicht falsch verstehen, dass die nicht-Theologen solche innertheologischen Diskurse nicht mit großem Interesse aufnehmen würden. Aber die Arbeit muss m.E. so strukturiert sein, dass es einen Strang gibt, der sich theologisch-wissenschaftlich mit Thema A, B, C beschäftigt, für sich Erkenntnisse gewinnt und dann überlegt, wie diese Erkenntnisse für ein so gemischtes Publikum beim Kirchentag übersetzt werden können. Da gibt es ja ganz viele Dinge, die darf ich gar nicht voraussetzen, weil sie sich dann langweilen. Die pädagogische oder die didaktische Umsetzung muss man dann überlegen. Das wäre eine erste Säule.
Eine zweite Säule wäre die politische. Die ist viel schwieriger, weil die meisten glauben, man könnte neutral oder gar objektiv sein, sogar sich selbst für neutral halten.
[…]
Diese zweite Säule müsste eine sein, die Differenzierungen und viel Geduld als Voraussetzung vorgibt und den ehrlichen Versuch einschließt mitzudenken, sich auf ein völlig anderes Denken und Zugehen auf Probleme einzulassen.. Weshalb man in Europa z.B. meint, die Komplexität der Situation zwischen der arabischen Welt und Israel zu verstehen, ist mir ein Rätsel. Aber dennoch haben so viele eine klare Meinung. Leider gilt dies auch für das Gros der Journalisten, auch wenn sie in der Region waren/sind. Sie kommen mit ihren Voreingenommenheiten. Über die absolut verwerfliche Rolle der UNRWA durfte man z.B. in Kreisen der AG nicht sprechen, geschweige denn zeigen, weshalb die Gründung der UNRWA – wenige Tage vor Gründung der UNHCR!! – eine reine antisemitische Tat war, mit Folgen bis heute, primär zu Lasten der Palästinenser aber natürlich auch für uns. Die UNO ist eine „heilige Kuh“ die man nicht antasten darf.
Das heißt: Eine zweite Säule müsste da viel intensiver, differenzierter und regelmäßig, – also nicht weil Krieg ist – sondern regelmäßig – sich informieren, austauschen, analysieren und sich unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen aneignen. Es geht mir nicht darum, eine Einheit zu bilden, sondern um eine saubere Analyse.
[…]
Eine dritte Säule wäre aus meiner Sicht dringend notwendig: Die Frage nach der innerchristlichen Identität. In der arabischen Welt werden seit langer Zeit – erst Recht im Schatten der Kriege im Irak, in Syrien in Afghanistan u.a. – die Christen im Nahen Osten vertrieben bzw. umgebracht. Als ich Helmut Gollwitzer bei einer unserer Sitzungen in den 1980gern fragte, was er und seine Bekannten denn für die Christen in der arabischen Welt tun würde, bekam ich eine unvergessliche Antwort: „Das sind doch mit Rom unierte Christen oder gehören einer Ostkirche an oder sind katholisch…“ Eine Antwort, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde.
Während des Libanon-Kriegs 1982 hat Helmut Gollwitzer einen Entwurf einer Resolution vorgetragen. Auch Rolf Rendtorff hat diesen Aufruf in der Zeit und in der Süddeutschen Zeitung mitunterschrieben. Nur noch ein weiteres AG-Mitglied unterschrieb.
[…]
1982, als Gollwitzer so intensiv mit dieser anti-israelischen Aktivität befasst war, äußerte er sich auf einem Martin-Buber-Kongress in Be’er Sheva und nannte uns Israelis – öffentlich – Herrenmenschen.
Er hat es nicht zurückgenommen!
Viele andere haben sich für ihn sehr geschämt.

Interview mit Dr. h.c. Edna Brocke

Martin Stöhr, geb. 1932, studierte Evangelische Theologie und Soziologie in Mainz, Bonn und Basel. Nach Ordination und Gemeindepfarramt in Wiesbaden war er von 1961 bis 1969 Studentenpfarrer an der Technischen Universität Darmstadt. Von 1969 bis 1986 übte er das Amt des Direktors der Evangelischen Akademie von Arnoldshain aus, wo 1978 das Programm für ein einjähriges „Studium in Israel“ gegründet wurde. Von 1965 bis 1984 war er – neben Rabbiner N. P. Levinson und Pater W. P. Eckert, ofm – evangelischer Vorsitzender des „Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (DKR). Unter ihrem Vorsitz sprach sich der Rat bereits 1971 grundsätzlich für den Verzicht der Kirchen auf die sogenannte Judenmission aus. Von 1986 bis 1998 lehrte er als Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen Theologie (Schwerpunkte: Ökumene und Jüdisch-christliche Beziehungen). 1990 wurde er in Prag (bis 1998) zum Präsidenten des „International Council of Christians and Jews“ (ICCJ) gewählt.

Interview zwischen Prof. Dr. Martin Stöhr und Ansgar Gilster:

Ich fange historisch an. Zu Beginn des Kirchentages (1949) gab es einen eindrucksvollen Brief von Reinold von Thadden-Trieglaff, dem Gründer des Kirchentages, in dem er schrieb, dass es ein Gespräch über Kirche und Israel (Israel meint in diesem Gebrauch immer auch den theologisch-biblischen Begriff) geben müsse. Dieser Brief wurde beim 60. Geburtstag des Kirchentages verlesen. Bis zum Start der AG verging einige Zeit. Einige Personen sind zu nennen, die zu den Gründungsmitgliedern gehören, z.B. Helmut Gollwitzer, der auf dem Münchener Kirchentag 1959 in einem Vortrag „Kirche und Israel“ forderte, die Kirche habe mit einer Absage an ihre Irrwege und für ihre zukünftigen, neuen Wege zwei „Wegweiser“ zu beachten: „Auschwitz“ und „Israel“, um Verachtung und Hass gegenüber dem jüdischen Volk zu überwinden und Solidarität mit dem 1948 auf der völkerrechtlichen Basis der UNO gegründeten Staat Israel zu leben. Nur so komme es zu einem Neubau der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. Es gab 1959/60 massive Schmierereien, vor allem in Köln und Düsseldorf, gerade an neu gebauten Synagogen und Vandalismus auf jüdischen Friedhöfen. Antisemitismus wurde wieder öffentlich, nicht bloß bei einigen Außenseitern. Die Initiative, der Kirchentag solle das Thema Juden und Christen aufgreifen, hatte neben der theologischen eine politische Dimension; einmal die der deutschen Geschichte und die des Staates Israel, dessen Lebensrecht bis heute gefährdet ist. Er entstand im selben Jahr 1948 wie der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK). In dessen ersten Debatten wurde, neben einem christlichen Schuldbekenntnis, die christliche Solidarität mit dem jüdischen Volk, die Bekämpfung des Antisemitismus, aber auch „Judenmission“ vertreten. Der ÖRK hatte den Staat Israel immer anerkannt, was der Vatikan erst 1993 tat. Zu den treibenden Kräften gehörten auf der christlichen Seite u.a. Helmut Gollwitzer und sein Schwiegervater Adolf Freudenberg. Freudenberg war Pfarrer auf dem Heilsberg (Bad Vilbel), nachdem er aus der Emigration in Genf zurückgekehrt war. Der promovierte Jurist arbeitete bis 1934 im Auswärtigen Amt, zuständig für die Fortbildung junger Diplomaten, studierte nach der Entlassung Theologie und emigrierte nach dem Oktoberpogrom 1938 wegen der Verhaftungen von Mitgliedern der jüdischen Familie seiner Frau. In Genf baute er die Flüchtlingshilfe des ÖRK auf. Meine persönliche Beziehung zu Gollwitzer entstand während das Studiums in Bonn, wo z.B. Luthers Judenhass, das  Versagen der Kirche, auch der Bekennenden Kircheeine notwendig neue Lektüre der Bibel im Studienprogramm von Hans-Joachim Iwand († 1960) und Hans-Joachim Kraus angepackt wurden. Dazu kamen die Kontakte der Familie meiner Frau zur Familie Freudenberg.  Auf der jüdischen Seite nenne ich für die Anfangszeit der AG z.B. den Religionswissenschaftler Ernst Ludwig Ehrlich, Rabbiner Robert Raphael Geis, die Historikerin Eleonore Sterling und Eva Gabriele Reichmann, die die „Wiener Library“ zur Geschichte des deutschen Judentums nach London hatte retten können. Hans-Joachim Kraus hatte 1953 Martin Buber an unsere Fakultät eingeladen, den ich dort noch hörte. Von Beiden lernte ich u.a. eine positive Wertung der in der christlichen Tradition meist negativ-jüdisch, als lastendes „Gesetz“ und bloße christliche Vorgeschichte, verstandene Tora kennen: Gottes gute Weisung. Auf der christlichen Seite sind der Berliner Neutestamentler Peter von der Osten-Sacken, der damalige Studentenpfarrer Friedrich-Wilhelm Marquardt und der Berliner Soziologe Dietrich Goldschmidt zu nennen, Als „Nichtarier“ überlebte er als Zwangsarbeiter. Sie luden zu einem ersten Treffen 1960 ein, um für den Berliner Kirchentag 1961 ein Programm (und eine AG) zum Themenfeld „Juden und Christen“ vorzubereiten. Unsere Arbeit versuchte, die theologischen und politisch-historischen  Aspekte in den Fragen nach dem Verhalten und Denken der Kirche im Blick zu behalten: Wie konnte es geschehen, dass in Europa deutsche Gewalt und Gedankenwelten die Vernichtung des jüdischen Volkes betrieben? Was bedeutet der Staat Israel, nachdem er als Volk Israel oft eine angeblich vergangene, durch die Kirche ersetzte theologische Größe war? Stoff für auch konfliktreiche Debatten. Aber zunächst waren wir nach dem Berliner Kirchentag euphorisch der Meinung, wenn wir zwei-, dreimal auf dem Kirchentag selbstkritisch an den genannten Themen gearbeitet hätten, dann setzt sich diese erneuernde Aufklärung durch, sodass wir uns als AG Juden und Christen überflüssig machen könnten. Dann aber kamen in Dortmund und Köln absolute Rückschläge. Nicht vom Kirchentag, sondern aus den wachsenden Auditorien unserer Veranstaltungen. Gegen die Wege in absolutes Neuland wurde nach der Schuld der anderen, ja der Juden selbst, gefragt, das Versagen der Kirche heruntergespielt oder der Antisemitismus verharmlost oder auf „deutsche“ Leiden verwiesen. Die Presse war in Berlin überrascht. Zum ersten Mal referierten und diskutierten auf einer kirchlichen Großveranstaltung Juden und Jüdinnen. Aber „Christ und Welt“ schrieb schon vom “Ausverkauf der Kirchengeschichte“, wenn die Frage nach dem ethischen Versagen der Christenheit in Deutschland gestellt wurde. Noch war der große Streitpunkt nicht im Blick: Welche Bedeutung haben eine traditionelle Christologie oder Messiasauffassung als Wurzelboden für das ethische Versagen des Protestantismus? Als 1973 vor Düsseldorf ein Tiefpunkt des Kirchentages erreicht war, tauchte die Idee mit dem Markt der Möglichkeiten und der großen Partizipationsmöglichkeit für Gruppen, Einzelne und Initiativen auf. Wir fragten uns, ob wir nicht ein Kernelement des Kirchentags in unserer AG nicht neu gestalten müssten: die Bibelarbeit. Warum lesen wir die Texte nicht mit einer jüdischen und einer christlichen „Brille“ und erschließen kritisch die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte beider „Bibelleser“? 1973 entfalteten Edna Brocke (zum ersten Mal hielt eine Frau eine Bibelarbeit) und Gerhard Bauer eindrucksvoll und modellhaft in einem dialogischen Stil die vorgegebenen Bibeltexte.1 Am Anfang bezog sich das nur auf alttestamentliche Texte, mit der Ausweitung dieses Dialogs kamen später auch neutestamentliche Texte hinzu. Gewachsen war die Erkenntnis: das Neue Testament ist im Grunde ein Midrasch, jüdisch gesprochen, zum Alten Testament, eine weiterführende Auslegung, keine „Antithese“. Zwar kam eine zweifelnde Zwischenfrage von  Richard von Weizsäcker, ob das möglich sei? Er als sehr positiv zu unserer Arbeit eingestellter Kirchentagspräsident zeigte, wie neu die eingeleiteten Schritte erschienen. Der christlich-jüdische Dialog ist – bis heute – vor allem eine selbstkritische Sichtung überkommener Einstellungen. Diese sahen z.B. die jüdische Bibel oder Israel „nach dem Fleisch“ „nur“ als Vorgeschichten der Kirche, das wahre „Israel nach dem Geist“. Eine erfolgreiche Innovation stellte Aufgaben, die weiter zu bearbeiten sind.

Wir hatten immer Schwierigkeiten mit dem Wort „Dialog“, heute verlangt man zu Recht „auf Augenhöhe“. Wir versuchten es und es funktionierte auch bis hin zum scharfen Kritisieren und Witze-erzählen. Aber es gab und gibt keine Symmetrie, denn die uns verbindende und trennende Geschichte ist asymmetrisch, und zwar auf eine doppelte Weise. Einmal stellt die Christenheit in Europa immer die Mehrheitsgesellschaft mit starken, politischen, ökonomischen und ideologischen Positionen – trotz später Emanzipationsversuche. Die preußische Emanzipation wurde z.B. bald wieder zurückgenommen. Die Juden blieben die nicht gleichberechtigte Minderheit, auch in der Weimarer Republik mit ihrer demokratischen Verfassung. In dieser Zeit wuchs der Antisemitismus noch einmal rasant; seine völkischen und rassistischen Motive überholten und benutzten die religiösen.

Es war auch für uns alle keine Selbstverständlichkeit, dass die Überlebenden mit uns redeten. Diese Begegnungen waren auch für mich ein  Wunder. Ich bin in einem Dorf groß geworden, wo es keine Juden gab und wurde dann, zehnjährig, zu den Großeltern geschickt, weil dort ein Gymnasium erreichbar war. Im März 1945 kam mit der Befreiung ein US-amerikanischer junger Offizier zu meinen Großeltern und wollte die Wohnung beschlagnahmen. Das wurde dann nichts, sie war zu klein. Er sprach mit meinem Großvater aber Latein. Ich war zwölf, hatte gerade meine erste Lateinarbeit in den Sand gesetzt. Mein Großvater hatte eine humanistische Schulbildung, der jüdische Offizier auch. Ich stand mit offenem Mund dabei, ahnte nicht, wie richtig oder falsch das war, was die beiden redeten. Dann erklärte er mir auf Deutsch, warum er diese Sprache nie wieder hatte reden wollen. Seine ganze Familie war umgebracht worden. Er war mit der Jugend-Alija gerettet worden. Meine erste „christlich-jüdische“ Begegnung. Vielleicht auch ein Motiv, neben dem totalen Schweigen der Schule und dem Arbeitsplatz meines Vaters ab 1945. Er musste eine von 1938-1945 von der SS beschlagnahmte Behinderteneinrichtung wieder in die Arbeit der Inneren Mission zurückführen. Als Kind Überlebenden der Schoah und der Euthanasie begegnet zu sein, das bleibt im Gedächtnis. Mich beschäftigte  zunehmend die Frage: Warum machten so viele kluge und gebildete Leute mit oder schauten schweigend weg? Warum verharmlosten nach 1945 so viele Zeitgenossen, was geschehen war? Dass dergleichen nicht noch einmal geschehen dürfe, verband alle in der zusammenwachsenden, gemeinsam analysierenden und streitenden AG.

Das denke ich. Edna Brocke hat eindeutig formuliert: Ich mache hier mit, damit so etwas nie wieder passiert. Rabbiner Geis, im deutschen Judentum, einschließlich der Jugendbewegung wurzelnd, betonte den theologisch wie politisch notwendigen Neuanfang. Alle verband der Wille, die horrende Unkenntnis sowie die virulenten Vorurteile über Religion, Kultur und Geschichte des jüdischen Volkes (in der Diaspora und in Israel lebend) zu überwinden. Es war ihnen aber auch wichtig, ein Erbe weiter zu geben. Ernst Ludwig Ehrlich (Basel), der Londoner Rabbiner Albert Friedlander oder Herbert Strauß, der Gründer des Zentrums für Antisemitismus-Forschung in Berlin, gehörten zu den letzten, die noch mit Leo Baeck in dessen Wohnzimmer studiert hatten. Zu dieser Gruppe gehörte auch Nathan Peter Levinson, der mit der letzten transsibirischen Bahn 1941 sein Leben retten konnte. Nach seiner Ausbildung (in Cincinnati) und Ordination wurde er zunächst Militärrabbiner in Japan, kam dann mit einer US-amerikanischen Militäreinheit nach Deutschland. Rabbiner Leo Baeck hatte ihn gebeten, in Berlin die Überlebenden in einer  neuen Gemeinde zu sammeln. Ich nenne aus den Anfängen noch den orthodoxen Rabbiner Holzer – aus Frankfurt, aber nicht aus Goethes Frankfurterischer Sprache vertrieben. Sie und andere Mitarbeitende vermittelten den christlichen Mitgliedern der AG einen Eindruck vom vielgestaltigen Reichtum des deutschen Judentums. Von ihm hatte Gershom Scholem, kritisch gegen die billige Rede von einer „deutsch-jüdischen Symbiose“, gesagt, dass die jüdischen Bitten, ja der Schrei um Gehör und Gespräch nie erhört wurden.

Ja. In pädagogischen, kulturellen und politischen Veranstaltungen des Kirchentages waren immer auch Mitglieder der AG vertreten. Wir verstanden unsere Arbeit ja nicht als ein „Spezialthema“. Es war ein Querschnittsthema, weil die antisemitische Vergiftung unserer Gesellschaft wie die Zumutung, neu zu denken und zu handeln, quer alle Gruppen und Schichten betraf. Wichtig war uns die strikte Ablehnung jeder Judenmission. Unser Interesse war, die  jüdisch-christliche Perspektive in möglichst viele Arbeitsfelder des Kirchentages einzutragen. Eine Kollekten-Ankündigung für ein palästinensisches Projekt mit einer israelvergessenden Abkündigung führte zu einem kritischen Gespräch von Edna Brocke und mir mit dem damaligen Kirchentagspräsidenten. 1999 wurde das Thema „Judenmission“ von uns exklusiv und kritisch in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Das hinderte judenmissionarische Initiativen nicht, immer wieder mit „Missionsschriften“ auf den Kirchentag drängen. Es gab in der Struktur und Funktionsweise der AG zwei Einschnitte. Die eine beschreibe ich aus meiner Perspektive, weil ich seit 1969 in Arnoldshain die Aufgaben von Franz von Hammerstein übernahm: einzuladen, für Protokolle zu sorgen, mit ReferentInnen zu verhandeln etc. Mit Edna Brocke, Dieter Goldschmidt, Albrecht Lohrbächer und Daniel Kempin saß ich im Vorstand der AG. Kurz vor dem uns alle tief berührenden zweiten Golfkrieg 1991 hatte ich einen Brief geschrieben: Ich wollte mein Amt niederlegen, denn ich hatte den Eindruck, ich bin nur noch ein „Impresario“, der Anrufe oder Briefe bekam, in denen ich – jüdisch wie christlich – gebeten wurde, beim nächsten Kirchentag doch auf einem Podium oder Referat beteiligt zu werden. Der Kirchentag war eine begehrte Bühne und die AG hatte mehr InteressentInnen als Plätze zur Mitarbeit zu vergeben. Viel gewichtiger aber war die Schwierigkeit, jüdische Mitglieder für die AG zu gewinnen. Aus der kleinen Zahlen der Überlebenden, waren nicht alle bereit. Einige sagten mir: Was ihr macht, das hätte vor zwei oder drei Generationen geschehen müssen. Andere waren mit dem Aufbau der winzigen jüdischen Gemeinden mehr als ausgelastet. Überdies war noch nicht klar, ob sie eine Zukunft im Land der Täter haben werden. Das heißt im Klartext: Die christliche Seite war in unserem Land dialogbereit, nachdem die jüdischen Gesprächspartner mörderisch dezimiert worden waren.2 Erst die Einwanderung aus Ländern der früheren Sowjetunion änderte die Situation, nicht die notwendigen Aufgaben.

Ja, dazu  gibt‘s verschiedene Lesarten. Faktum ist, dass der 2. Golfkrieg die Arbeit  der AG ganz stark bestimmte. Die Friedensbewegung engagierte sich nicht für das mit Raketen bedrohte Israel. Diejenigen unter uns, die ihr nahestanden, gerieten in den Verdacht, an diesem Desinteresse teilzuhaben.

Die harten kriegerischen Auseinandersetzungen begannen mit Raketenangriffen auf Tel Aviv, Saddam Hussein hatte mit Giftgas gedroht. Deutschland hatte dafür auch Rohstoffe geliefert. Eine Vernichtung durch Gas drohte. Edna Brocke und ihre Familie war nicht nur ganz persönlich betroffen, sie kritisierte zu Recht – mit anderen – und in aller Deutlichkeit die hierzulande stark spürbare Gleichgültigkeit. Reichte sie nicht bis in die AG? Nein, würde ich sagen. Ich habe nie wieder eine so offene und engagierte Debatte unter uns erlebt wie damals. Trotzdem muss ich sagen: Mich stören bis heute die damals Schweigenden, nicht nur in unserer AG. Es gab durchaus eine unterschiedliche Einschätzung der Gefahren für Israel. Obwohl in der Moderatorenrolle, widersprach ich Edna Brocke. Ich hielt ihren Eindruck für falsch, wir verweigerten Israel das Recht auf Verteidigung und damit unsere Solidarität. Konkret ging es um Raketenlieferungen an Israel, genauer um die Patriot-Abwehrraketen. Da machte sich ein Dissens fest. Edna Brocke sagte oder sah es so: Ihr, eine bestimmte Gruppe in der AG, verharmlost die Gefährdung Israels und bestreitet sein Recht der Verteidigung. Übertrug sie nicht auf die in der AG Kritisierten, so frage ich heute, die unmögliche Position von MdB Ströbele, Israel treffe jetzt das, was es selbst verursacht habe? Diese Meinung hat sich leider bis heute multipliziert. Hinzu kam eine berechtigte Kritik an einem billigen Pazifismus, der nicht auftrat, wenn es um andere Kriege oder Bürgerkriege ging – bis heute. Er ließ damals Schulen klassenweise gegen Israel demonstrieren, als habe Israel den Krieg angefangen. Das gegenüber Israel höchst problematische, indifferente Verhalten spiegelte damals auch eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung wieder: Israel landete auf dem letzten, die USA auf dem ersten Platz bei der Frage, zu welchem Land sollte Deutschland enge Beziehungen haben? Die christlichen Mitglieder der AG billigten allerdings einstimmig die Verschickung der Patriot-Raketen und schrieben an die Kirchen, das Gleiche zu tun. Sie schwiegen aber. Gestern fand ich in meinen Unterlagen einige Papiere der AG, darunter einen Brief mit dem Datum vom 29.01.1991. Ihn hatte Gabriele Kammerer in ihrer Darstellung der Geschichte der AG nicht zur Verfügung.3
Hier ist eine Kopie, gleichlautend ging der Brief an die katholische Bischofskonferenz unter dem Vorsitzen von Bischof Karl Lehmann. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte gelang es uns nicht, auf der Jahrestagung 1991, uns gegenseitig verständlich zu machen. Es gelang nicht allen, Edna Brocke deutlich machen: Edna, wir verstehen dich. Wir verraten nicht die seit der Gründung der AG konstitutiv dazu gehörende Solidarität mit Israel. Sie verließ den Vorstand und die AG. Sie drang auf eine Trennung von denen, die – wie sie dachte – auf Israels Seite stehen und jenen, die es nicht tun. Gegen diese Sichtweise wehrte ich mich, weil ich dieses eindeutige Bild nicht sah. Es gab zwar „israelkritische“ Anfragen von Christinnen und Christen sowie von Juden und Jüdinnen an israelische Regierungsentscheidungen, nicht aber gegenüber dem Staat Israel und keinen Verrat an der Solidarität mit Israel und seinem Lebensrecht. Häufiger hatte es, wie in den Medien, eine Diskussion über das ebenso gängige wie unscharfe Stichwort „kritische Solidarität“ gegeben.4
Nein, diese Diskussion gab es ja, wie in der Öffentlichkeit, schon vorher. Die AG war pluralistisch zusammengesetzt, deutlich ausgesprochene Nuancen gab es in den Fragen nach den Verhandlungschancen für einen Frieden; nach Besetzung der Westbank (ab 1967);nach deutschen Waffenlieferungen. Die Debattenlinien gingen durch die „jüdische“ wie durch die „christliche“ Seite. Man lese nur einmal als Beispiel unsere Dokumentationen „Juden und Christen im Dienst für den Frieden“.5 Bald nach dem Start unserer Arbeit stellte sich die Frage: Sollen wir den Nahostkonflikt behandeln? Wir sagten mehrheitlich,  wir können die Wirklichkeit, in der das jüdische Volk heute lebt, nicht ausblenden. Barbara Just-Dahlmann widersprach, es gebe so wenige Leute in unserem Land, die zum Staat Israel unverbrüchlich stünden; wir sollten bei den Kernfragen der christlich-jüdischen Beziehungen bleiben. Für Palästina – oder für die Araber, sagte man damals, weil Juden auch Bürger des (Mandatsgebietes) Palästina mit einem palästinensischen Pass waren – schreien viele, aber für Israel schreit hierzulande kaum jemand. Zur Mehrheit habe ich mich gezählt. Die verschiedenen Podien zum Nahostkonflikt brachten zwar eine Fülle von notwendigen Informationen von verschiedenen Sprechern aus der Region, hatten aber das Problem, dass die Menschen im Auditorium leicht in eine Zuschauerhaltung gerieten. Sie lebten nicht dort.
Bescheidener machen Sie es nicht, nein? Also, ich denke, dass theologisch noch intensiver an dem Verhältnis Heilige Schrift der Juden – Heilige Schrift der Christen gearbeitet werden müsste. Ist die jüdische Bibel, der größte Teil der christlichen Bibel, ist für Christen mit dem Neuen Testament gleichberechtigt, wird sie nicht doch immer noch allzu typisiert „nur“ als Verheißung, „nur“ als Gesetz, „nur“ als Vorgeschichte gegenüber der Erfüllung, dem Evangelium als dem „Ende der Geschichte“ angesehen? Und nicht als eine eigenständige Stimme, die eine eigene, nicht vom Christentum aus zu deutende Geschichte des von Gott bis heute berufenen Volkes Israel erzählt. Noch lebt in den Kirchen eine historische Vorordnung Israels. Auch das Bild Israel als „Mutterreligion“ des Christentums operiert mit diesem Gedanken. Haben die christlichen „Kinder“ sich aber nicht an die Stelle der „Mutter“ gesetzt? Haben sie sie nicht sterben lassen? Eine unterschiedlich gelesene Bibel – bei allen Gemeinsamkeiten –und eine damit verbundene Ekklesiologie bleiben zentrale Themen. Wie sieht christlich-jüdische „Geschwisterlichkeit“ aus? Das zweite theologische Thema heißt: Wie formulieren wir ein Christusbekenntnis ohne implizite jüdische Diskriminierung? Ein Satz aus der Amsterdamer Arbeitsgruppe des ÖRK 1948 wurde zwar vom ÖRK nicht mehr gesagt, ist aber doch eine in der Christenheit weit verbreitete Sichtweise: „Der Messias, auf den ihr wartet, ist schon gekommen.“ Wartet die Christenheit nicht auch? Sollten wir nicht endlich von dieser Überbetonung der Christologie  als Lehre von Christus wegkommen hin zur Christus-Nachfolge? Recht tun statt Recht haben? Wenn Sie so wollen, ist bei mir diese Linie einer biblischen „Ethisierung“ des christlichen Glaubens stärker geworden. Das dritte Problem hängt mit einer ekklesiologischen Verhältnisbestimmung zusammen. Wir haben ganz am Anfang unserer Arbeit immer „Kirche und Israel“ gesagt und meinten zuerst das biblische Israel. Heute gilt es, Israel in seinen drei Bedeutungen wahrzunehmen, nicht zu von einander separieren: Staat Israel, Volk Israel und Land Israel. Ich muss jeweils genau sagen, wovon ich rede.6 Parallel dazu stellt sich die Frage: Was ist eigentlich die Kirche? In welchen Konfessionen denken und leben wir? Johann Baptist Metz hat im Zusammenhang mit dem Reformkonzil (Vaticanum II) das biblische Bild vom wandernden Volk Gottes als das heute entscheidende Kirchenverständnis interpretiert. Kein Papst nach ihm nahm das ernst. Problematisch an der (neutestamentlich praktizierten Übernahme) ist die Gefahr einer Enteignung des jüdischen Volkes durch eine gedankenlose Aneignung, die vergisst, dass der Jude Jesus in seiner jüdischen Gemeinde lebt und streitet und ihr nicht absagt. Stehlen wir dem jüdischen Volk wichtige Begriffe und Selbstverständnisse, wie es mit dem Anspruch, das „wahre Israel“ zu sein, geschah? Wie verstehen wir uns als Kirche? Katholisch kann sie als eine Heilsanstalt, als heilige Mutter verstanden werden? Dann ist es z.B. einfach zu sagen, gesündigt haben die Söhne und Töchter der Kirche, aber nicht die Kirche. Doch, auch die christlichen Institutionen können sündigen. Uns Protestanten fällt es leichter, von der Schuld der Kirche zu sprechen. Ist es verbindlicher? Wer und was ist die Kirche? Reicht die Selbstdefinition, sie sei dort, wo „das Evangelium rein gepredigt“ und die „heiligen Sakramente“ dem Evangelium gemäß gereicht werden (Confessio Augustana VII, 1530)? Hat sie sich nicht de facto doch stärker durch das staatliche Gegenüber definieren lassen? Gehört zu den notae ecclesiae nicht auch die  „Nachfolge“? Was meinen die jeweiligen Kollektive, in denen  wir uns vorfinden, in den Kirchen und in Israel?

Natürlich. Die ist überhaupt nicht zu vermeiden, weder im Blick auf die deutsche Geschichte, noch im Blick auf den Nahostkonflikt. Vor allem aber nicht, wenn wir die alt- und neutestamentliche Tora mit ihren ebenso konstruktiven wie kritischen Weisungen ernst nehmen und das Leben und Zusammenleben der Menschen und Völker nicht irgendwelchen Sachzwängen oder den herrschenden Mächten zu überlassen.

Interview mit Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken

Peter von der Osten-Sacken, 1940 in Westpreußen geboren, studierte Evangelische Theologie in Göttingen, Kiel und Heidelberg. 1967 promovierte er in Göttingen mit einer Arbeit über die Schriftrollen vom Toten Meer und absolvierte in der Nähe ein halbjähriges Vikariat. Von 1964-1970 war er Assistent des Neutestamentlers Eduard Lohse in Göttingen. 1973 folgte dort die Habilitation mit einer Arbeit über die paulinische Theologie. Von 1973 bis 1993 war er Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West), deren Rektor er von 1980 bis 1982 war. Nach der Fusion der Kirchlichen Hochschule mit der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität war von der Osten-Sacken bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 Professor für Neues Testament und Christlich-Jüdische Studien an der Humboldt-Universität. Von 1974 bis 2007 leitete er das Institut Kirche und Judentum. 2005 wurde ihm zusammen mit dem Institut die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen, 2016 der Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern und Religionen des Senats von Berlin. 2006 und 2007 erhielt er Ehrendoktorate des Hebrew Union College. Institute of Religion in Los Angeles und der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer von Studium in Israel.
Interview zwischen Prof. Dr. Peter von der Osten-Sacken und Ann-Kathrin Kutzenberger:

Ich bin über das Institut Kirche und Judentum in die AG gekommen. Mein Vorgänger war Günther Harder, von Hause aus Jurist und Neutestamentler. Er hatte damals den Lehrstuhl für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule in Berlin inne und wurde 1972 emeritiert. Somit stand die Frage seiner Nachfolge an und ein erster Berufungsvorgang begann, bei dem anscheinend an Harder vorbei ein Neutestamentler aus Münster, Günter Klein, ein strenger Bultmannschüler und auch gegenüber den Fragen des Verhältnisses zum Judentum eher zurückhaltend, berufen wurde. Er lehnte ab und Harder bekam den Anstoß, noch aktiver zu werden. So wurde dann meine Berufung initiiert. Ich hatte mich Ende Januar 1973 in Göttingen habilitiert und bekam Anfang März den Ruf nach Berlin. Zum ersten April habe ich dann in Berlin begonnen. Harder hatte zu dieser Zeit noch die Leitung des Instituts Kirche und Judentum inne und hatte sich für mich nicht nur im Hinblick auf das Gebiet Neues Testament eingesetzt, sondern auch als denkbaren Nachfolger in der Institutsleitung. Ich hatte zu Harder ein wunderbares Verhältnis und habe ihn sehr geschätzt. Als Harder mich fragte, ob ich prinzipiell bereit sei, die Institutsleitung zu übernehmen, fügte er unmittelbar hinzu, dass ich selbst bestimmen könne, zu welchem Zeitpunkt. Er würde sie dann noch übergangsweise ausüben. Er war 1973 immerhin schon Anfang 70. (Heute weiß ich natürlich, dass das noch kein Alter ist, aber damals war das noch anders, ich war selbst erst Anfang 30). Daraufhin sagte ich, dass ich mir zunächst die Arbeit des Instituts ansehen wolle. Ich hatte ja zunächst auch nur einen Monat Zeit, um mich auf die erste Vorlesung vorzubereiten. Daneben auch bereits im Institut einzusteigen, das wäre nicht gegangen. Also sagte ich, dass ich es mir in 1 1/2 Jahren vorstellen könnte.
Im Herbst 1974 habe ich die Leitung übernommen und bis dahin an den Sitzungen einer Arbeitsgemeinschaft teilgenommen, die Harder leitete. Sie umfasste Personen des theologischen-akademischen Bereiches wie z.B. Marquardt, die sich etwa monatlich trafen und überlegten, welche sinnvolle Arbeit man im Stadtbereich leisten könne. Diese Arbeit habe ich 1 1/2 Jahre mitgemacht und später auch von Harder übernommen. Die Gruppe war sehr klein und sehr eingespielt, sodass ich schnell merkte, dass sie die eigene Entfaltungsmöglichkeit eher einschränken würde.  Somit habe ich die Arbeit nach ca. 1-2 Jahren und nachdem ich noch einige Studenten und Studentinnen herangezogen hatte, langsam einschlafen lassen. Danach hat die AG noch alle 3-4 Jahre zu besonderen Vorkommnissen getagt. Später war sie noch einmal initiativ, nachdem im Rheinland 1980 die Erklärung zur Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses verabschiedet worden war. Die Gruppe war sich damals einig, dass ein analoges Papier auch in der Synode in Berlin verfasst und verabschiedet werden müsse, und hat dafür den Anstoß gegeben. Die Erklärung wurde im Mai 1984 nach mehr als zweijähriger Vorbereitung beschlossen. Harder hat das nicht mehr erlebt. Er ist 1978 gestorben. Er war Mitglied der AG Juden und Christen, ein wichtiges Mitglied. In den 50er Jahren ist er unglaublich aktiv gewesen und in seiner aktiven Zeit dafür nicht recht gewürdigt worden. Er war von Anfang an Mitglied in der EKD-Kommission „Dienst an Israel“, die von Karl Heinrich Rengstorf geleitet wurde, und hat dort intensiv mitgearbeitet.

Ganz genau. Er war bereits seit der Gründung der Kommission „Dienst an Israel“ 1953 auf diesem Feld aktiv, mehr noch, er war auch schon in der Zeit von 1945 bis dahin hier in Berlin im Bereich des christlich-jüdischen Verhältnisses tätig und hat Vorträge gehalten. In der NS-Zeit war er zweimal von der Gestapo abgeholt und inhaftiert worden. Er stand auf der Liste derjenigen, die nach dem 20. Juli 1944 liquidiert werden sollten, und hat durch reinen Zufall überlebt. Er war ein unglaublich tapferer, mutiger und aufrechter Mann, der z.B. auch Christen jüdischer Herkunft bei sich versteckt hatte. Ich habe das erwähnt, um zum Ausdruck zu bringen, dass er auch von seiner Vergangenheit her von Anfang an zu den Säulen der Arbeit der AG Juden und Christen gehört hat.
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Aber Sie hatten ja gefragt, wie ich in die AG gekommen bin. Das geschah einfach als Nachfolger von Harder. 1973 hatte gerade ein Kirchentag stattgefunden, bei dem ich nicht dabei war. 1974 begann die Vorbereitung des nächsten Kirchentages. Zu dieser Zeit stand mir bei meiner Vorlesungstätigkeit in Berlin zeitlich immer noch das Wasser bis zum Hals, sodass ich noch nicht mitarbeiten wollte und konnte. Eine studentische Hilfskraft, Ulrike Berger, hat damals vom Institut aus an der AG teilgenommen.
[…]
Und mit ihr zusammen nahm Dr. Ursula Bohn teil. Sie ist ebenfalls wichtig im Hinblick auf Harders Zeit und war ein Berliner Urgestein. Als ich anfing und Harder mich ihr vorstellte, war sie kurz vor 65. Seit der Gründung des Instituts 1960 war sie dort als Assistentin tätig.
[…]
Ursula Bohn verdient es, dass ich noch ein paar Sätze zu ihr sage. Sie war, solange sie im Institut und Harder in der Kirchentagsgruppe aktiv war, in der AG immer mit dabei und hat viele Protokolle geschrieben. Sie war still, hatte aber eine ganz klare Linie. Sie hatte in den Jahren 1933-1945 zwei jüdische Freundinnen. Die eine war ihre Ärztin, Allergologin, mit später internationalem Ruf. Die zweite war eine gute Freundin, Henny Frankenschwert. Sie ist 1942 abgeholt und später in Auschwitz ermordet worden.
Das war für Ursula Bohn eine grauenhafte Erfahrung, die sie nie losgeworden ist. Henny Frankenschwert hatte sie einmal losgekauft. Das war mit Eisenbahnern, die die Züge nach Auschwitz fuhren, auf dunklen Kanälen möglich. Beim zweiten Mal ist es nicht gelungen. Ursula Bohn bekam noch eine Postkarte aus Auschwitz. Das war alles.
Die andere Freundin, die Allergologin Lucie Adelsberger, ist in Auschwitz gezwungen worden, unter Mengele zu arbeiten. Später kam sie nach Ravensbrück und hat dort überlebt, aber hinterher nicht ein einziges Wort darüber verloren. Aber über die Zeit in Auschwitz hat sie eines der ganz frühen Bücher über die Verfolgungszeit geschrieben. Deutschland hat sie nie wieder betreten. Sie ist über Holland in die USA gegangen. Ursula Bohn hat sie noch einmal dort besucht. Von Seiten der deutschen Ärzteschaft ist ihr erst in den letzten 15 Jahren die ihr gebührende Anerkennung zuteil geworden.
[…]
Ursula Bohn fuhr weiterhin zu den Sitzungen des Kirchentages und das Institut war durch zwei Personen vertreten. Ich konnte also zunächst noch etwas warten. 1974 fing ich langsam an, Grund unter den Füßen zu haben, und bin 1975 das erste Mal mit zu einer Tagung nach Arnoldshain gefahren.
[…]

Wenn Sie mich fragen, was heute nötig ist, so meine ich, dass wir in der Arbeit an einem qualitativ neuen christlich-jüdischen Verhältnis viel weiter zurückgehen müssen, als wir es in jener Zeit vor ein paar Jahrzehnten gedacht haben. Weiter als das Theologiestudium, weiter als die Primar- und Sekundarschule, bis in den Kindergarten zurück. Ich bin kein Psychologe, kein Pädagoge, aber es gibt die Faustregel, dass im Alter von 5 Jahren das Meiste gelaufen ist.
[…]
Ich kann Ihnen das so verdeutlichen: Ich bin in einem Pfarrhaus aufgewachsen und habe mich als regelmäßiger Besucher in Gottesdiensten und vor allem in Passionsandachten von Jugend an jedes Jahr wieder in bestimmtem Sinne mit dem Jesus der Leidensgeschichte identifiziert, das ist ja völlig klar. Und wer greift Sie und ihn in dieser Identifikation an? Wenn Sie Glück haben, erzählt Ihnen jemand, dass es Pilatus und seine Soldaten waren. Aber sonst? Am Pranger stehen die Juden, auch wenn wie in den von mir besuchten Gottesdiensten und Passionsandachten nicht gegen sie gehetzt wird. Diese stille Prägung, die ja im Rahmen religiöser Sozialisierung noch früher einsetzt, kriegen Sie mal raus! Deshalb meine ich: Da reicht die Schule nicht. Man muss im Kindergarten ansetzen. So wie die Vorbereitungsgruppe für „Studium in Israel“ gesagt hat, dass man zurück bis zu den Studierenden gehen müsse, so müssen wir heute in ganz andere Ausbildungszweige zurückgehen wie z.B. den der Kindergärtnerinnen. Mit denen müsste man ins Gespräch darüber kommen, wie sie die Kinder unterrichten und wie sie die Bibel und dergleichen erzählen. Es jetzt eine Arbeit von Volker Menke darüber erschienen, wie in biblischen Erzählbüchern für Kinder über das Judentum geredet wird, und damit ein Anfang gemacht.
[…]
Das ist das Eine. Das zweite Dringliche scheint mir, dass man sich darüber Rechenschaft ablegt, was im Hinblick auf das Dunkle des 20. Jahrhunderts zu tun ist. Ich habe den Eindruck, der natürlich auch durch meine Erfahrungen an meiner eigenen Fakultät genährt ist, dass in der akademischen Theologie in der Breite – immer Einzelne und kleinere Gruppen ausgenommen – die gesamte Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses einschließlich ihrer dunklen Seiten irgendwie ausgesessen ist.
[…]
Sie ist als theologisches Problem ausgesessen und das heißt, sie ist in der Breite nie richtig akzeptiert worden. Es gibt immer tröstliche Ausnahmen und Unerwartetes. Und es gibt die Stillen im Lande, die einfach ihre nicht-antijüdische Arbeit machen und nicht groß mit der Glocke läuten. Aber als relevantes theologisches Thema, das nicht nur aus Anstand mitgenommen wird, ist es nicht in die Existenz eingegangen. Das ist der Sachverhalt.
Und jetzt kommt, zugespitzt gesagt, der Irrsinn: Nicht wenige Theologen sagen (oder verhalten sich so), dass die NS-Zeit nun zwei Generationen zurück und damit irgendwie historisch überwunden sei. Die Kids heute sind noch einmal ein Sonderfall, da muss man differenzieren. Aber wenn dieselben Theologen Sonntag für Sonntag davon ausgehen, dass ein Buch, das mehr 2000 Jahre und damit mehr als 60 Generationen alt ist, im Unterschied zur Zeit vor zwei Generationen heute noch Relevanz habe, dann muss man schon von einem schizophrenen Zug in der theologischen Arbeit sprechen.
[…]
Es ist deshalb schon eine gemeingefährliche Naivität, zu denken, die Zeit des Versagens gegenüber den Juden liege hinter uns und könne abgehakt werden. Diese Einstellung ist gemeingefährlich im Hinblick auf die nach wie vor bedrohte jüdische Existenz und angesichts dessen, was bei uns und durch die Jahrhunderte zurück in immer wieder anderer Form möglich war.
Hier muss man mit Fingerspitzengefühl, fein überlegend, sehen: Wie kann man die Erinnerung angemessen wachhalten und in das Gesamtdenken integrieren? Das wäre der zweite Punkt, den ich für wichtig halten würde.

Die Frage ist umso schwieriger, als die sog. Messianischen Juden zwar nicht von der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, aber doch je und dann vonseiten des Staates Israel begrüßt werden. Man freut sich angesichts der politischen Isolierung Israels über jede Gruppe, die sich mit Israel möglichst umfassend solidarisch erklärt – eine verständliche, aber mit Blick auf die Messianischen Juden für uns nicht unproblematische Situation. Ich selber kenne die Messianischen Juden durch ihren Evangeliumsdienst Beit Sar Shalom, der ungefähr einen Kilometer von hier seinen Sitz hat, als eine solche Gruppe. Ich meine mich zu erinnern, dass Staatspräsident Perez oder ein Vorgänger auf einem riesengroßen Treffen Messianischer Juden oder missionierender Gruppen aus den USA in Jerusalem eine Ansprache gehalten und sich darüber gefreut hat, dass sie dort zusammenkommen.
Vor längerer Zeit rief mich jemand von der israelischen Botschaft an, der Kontakt zu der Berliner Gruppe aufgenommen hatte, und wollte mich einbeziehen. Ich habe dies abgelehnt, weil es nur als Ermutigung für ihr Wirken verstanden werden würde und für uns hier völlig kontraproduktiv sei. Wir würden versuchen, ein einigermaßen heiles Verhältnis zur jüdischen Gemeinde aufzubauen, und wenn wir uns in irgendeiner Weise dort engagierten, würde dies als gegen die jüdische Gemeinde gerichtet empfunden, weil langfristig dort Juden abgeworben werden und dann  irgendwann erfahrungsgemäß auch keine Juden mehr sind. Ich höre noch heute auf Hebräisch den Einwand: „הם לא מיסיונרים / Sie sind keine Missionare.“ Worauf ich sagte: „Na wenn das so ist, dann wäre ja alles in Ordnung. Aber Sie irren sich.“ Das meine ich: Die umfassende Solidarität ist das Pfund, mit dem die sog. Messianischen Juden wuchern, und Anerkennungen wie die erwähnte machen die Auseinandersetzung mit ihnen nicht leichter.

Klar, jeder Verbündete ist willkommen.[…]
Am Meisten hilft wahrscheinlich noch im Verhältnis zu anderen, reflektiert christlichen Gruppen, die für eine Judenmission plädieren, eine wasserdichte Argumentation. Ich habe manchmal den Eindruck, dass eben doch Angriffsflächen bei denen, die Judenmission ablehnen, da sind, weil die Argumentation nicht wasserdicht ist.

Ich kenne die Erklärung und habe sie gelesen. Aber da gibt es im Verhältnis zum Neuen Testament eine Stelle, an der die Argumentation nicht dicht genug ist. Ich glaube aber, dass es in beiden vorkam, in der Erklärung und auch in dem Interview. Man muss doch sehen, dass Jesus Christus nach dem Neuen Testament eine Bedeutung für die Juden hat. Dem muss man nachgehen und dazu muss man etwas sagen. Wenn man das nicht tut, dann ist das eine nicht wasserdichte Stelle.
Damit werde ich jetzt nicht für Mission plädieren oder dergleichen. Aber die Sache selber bleibt. Eigentlich hat die Rheinische Erklärung das im Prinzip richtig gemacht. Sie hat gezeigt, dass man heute eine Bedeutung Jesu Christi für Israel nur ekklesiologisch aussagen kann, d.h. über die Kirche, über das, was die Kirche für Israel ist und sein soll. Und wenn die Kirche etwas für Israel ist, dann ist sie das nie aus sich heraus, sondern aus ihrer Bindung an Jesus Christus und den Gott Israels. Das hat mir in jenen beiden Äußerungen gefehlt. Denn wenn die Autorinnen das deutlich machen würden, dass unsere Bindung an Jesus Christus eine Bedeutung für die Juden hat, dann würden sie damit das Argument der Messianischen Juden und ihrer Sympathisanten widerlegen, sie alleine würden diese Bedeutung aufrecht erhalten. Wir formulieren diese Bedeutung nicht im Rahmen eines Missionsprogramms, sondern über unser Verständnis von Kirche und was Kirche im Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft ist: Keine Feindschaft, keine Erniedrigung, sondern ein versöhnendes, zuwendendes, friedvolles Verhalten.
[…]

Ja. Die hätten wir auch ausleihen können. Aber so, wie ich sie gesehen habe – ohne dass ich jetzt etwas gegen diese Ausstellung sagen möchte – habe ich gemerkt, dass sie für uns so nicht in Frage kommt. Und zwar nicht etwa, weil wir – der Ausschuss von EKBO und Berliner Touro College, der die Berliner Ausstellung vorbereitet – etwas beschönigen wollen; doch ich glaube, dass man nicht einfach das Missverhalten Luthers zu den Juden als A und O ins Visier nehmen darf. Höhepunkt 1523 und Tiefpunkt 1543-46. Der Lutherische Weltbund hat bereits in den 80er Jahren klargemacht, dass es nicht darum geht, Luther punktuell mit seinen wahnsinnigen Eskapaden aufs Korn zu nehmen und zu korrigieren, sondern dass man sehen muss: Wo ist die lutherische Theologie von ihrem Ansatz her insgesamt verwandlungsbedürftig? Nicht abschaffungsbedürftig, sondern verwandlungsbedürftig – um aus dieser ständigen Gefährdung herauszukommen, sich gegenüber den Juden fehlzuverhalten.

Genau. Und deshalb setzen wir anders an und versuchen, Luthers theologischen Ansatz und dessen Konsequenzen für die Darstellung und Beurteilung des Judentums darzustellen. Wie kommt das jüdische Volk in Luthers sich durchhaltendem theologischen Verständnis des Evangeliums zu stehen? Vor allem im Hinblick auf das Verständnis der zentralen Größe des Gesetzes, der Tora? Wir zeigen, welche Funktionen Luthers Sicht hat und bestreiten ihr nicht generell ihr Recht. Aber wir arbeiten als zentralen Punkt heraus, dass seine Sicht eine außerordentliche Verengung des Gesetzes in seinem  jüdischen Verständnis bedeutet und nicht das erfasst, was das Judentum ausmacht. Und deshalb ist in der geplanten Ausstellung von Anfang bis Ende Wert darauf gelegt, dass die jüdische Seite als Gegengewicht so weit wie möglich ihrem Selbstverständnis nach präsent ist und dass unter Einschluss Luthers theologische Ansätze gezeigt werden, die im christlich-jüdischen Verhältnis weiterführen.

Fußnoten

  1. Edna Brocke/Gerhard Bauer, Jüdisch-christliche Dialoge zur Bibel, Neukirchen 1985.
  2. Friedrich-Wilhelm Marquardt. Albert Friedlander, Das Schweigen der Christen und die Menschlichkeit Gottes. Gläubige Existenz nach Auschwitz, München 1980.
  3. Gabriele Kammerer, In die Haare, in die Arme. 40 Jahre Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, Gütersloh 2001.
  4. Edna Brocke und Martin Stöhr, Streit tut not. Juden und Christen nach dem gestörten Dialog. In: Evangelische Kommentare 2/1992 , S. 104-107.
  5. Robert Raphael Geis, Hans-Joachim Kraus, Eva Reichmann, Walter Dirks, Dietrich Goldschmidt, Erhard Eppler, Juden und Christen im Dienst für den Frieden. Vorträge in der AG Juden und Christen des 13. Deutschen Ev. Kirchentags Hannover 1967. Robert Raphael Geis, Moshe Tavor, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Ali Hassan, Kurt Sontheimer, Gerechtigkeit in Nahost. Vorträge in der AG Juden und Christen beim 14. Deutschen Ev. Kirchentag Stuttgart 1969, Stuttgart 1969.
  6. Erste Bearbeitungen dieser Themen (die auf den folgenden Kirchentagen natürlich auch aufgegriffen wurden) liegen in den Dokumentationen vor: (a) Peter von der Osten-Sacken und Martin Stöhr (Hg.), Wegweisung. Jüdisch-Christliche Bibelarbeiten und Vorträge – 17. Deutscher Evangelischer Kirchentag Berlin 1977, Berlin 1978. (b) Dies., Glaube und Hoffnung. Jüdisch-christliche Dialoge, Vorträge und Diskussionen, Berlin 1980.