Gutachten zur Ausstellung

„Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“

Dr. Sebastian Voigt

Im Vorfeld zum Nürnberger Kirchentag gab es bereits Diskussionen um die sog. „Nakba-Ausstellung“, deren erneute Ausstellung auf dem Markt der Möglichkeiten das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages abgelehnt hat. Der AG-Vorstand begrüßt diese Absage auch wegen der eklatanten fachlichen Mängel. Diese hat der Historiker Dr. Sebastian Voigt vom Institut für Zeitgeschichte in München im Auftrag des Vorstands in einem Kurzgutachten noch einmal zusammengefasst:

Die Ausstellung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und äußerst einseitig. Sie entspricht keineswegs den erforderlichen wissenschaftlichen Standards oder berücksichtigt den Stand der historischen Forschung, etwa die Werke von Benny Morris.1 Vielmehr basiert sie in ihrer Argumentation und ihren Schlussfolgerungen auf den Einschätzungen von Ilan Pappe. Bereits die Titeltafel schmückt ein Zitat des umstrittenen israelischen Historikers. Er tritt für eine Einstaatenlösung ein und bezeichnet Israel als Apartheidstaat. Derartige Positionen würden das Ende Israels als jüdischer Staat bedeuten und tragen nichts zu einer konstruktiven, notwendigen Debatte über eine Lösung des Nahostkonflikts bei. Diese Einseitigkeit zieht sich durch die gesamte Ausstellung.

Sie suggeriert, eine objektive Darstellung des historischen Geschehens um die Staatsgründung Israels zu sein. Gerade diese Behauptung trifft nicht zu. Alle teils falschen und durchgängig einseitigen Darstellungen zu widerlegen, würde den Rahmen dieses Gutachtens sprengen. Deshalb sollen im Folgenden die Auslassungen fokussiert werden. Sie machen die Einseitigkeiten in der Darstellung deutlich. Diese Verzerrungen der Ausstellung dienen dem Zweck, die Palästinenser*innen als bloße Opfer und die Zionist*innen als Täter darzustellen, die von langer Hand Vertreibungen geplant hätten.

Während die Ausstellung zu Recht den europäischen Antisemitismus und die Dreyfus Affäre im Frankreich des späten 19 Jahrhunderts als Gründe für die Entstehung des Zionismus als jüdischer Nationalstaatsbewegung benennt, legt sie nahe, dass die Juden und Jüdinnen im Osmanischen Reich und den späteren arabischen Staaten harmonisch zusammengelebt hätten. Erst die verstärkte jüdische Einwanderung und besonders der Zionismus habe dieses Verhältnis zerstört. Diese Darstellung ist selektiv und beschönigend. Die Lage von Juden und Jüdinnen war in muslimischen Ländern zwar häufig besser als im christlich geprägten Europa, aber keineswegs gut. Bereits Jahrzehnte vor der Staatsgründung Israels fanden im damals noch britischen Mandatsgebiet antijüdische Ausschreitungen statt. 1920 wurden Juden in Jerusalem unter „Tod den Juden“-Rufen ermordet und verletzt, 1921 kam es unter anderem in Jaffa zu heftigen Ausschreitungen und 1929 in mehreren Städten und Ortschaften. So massakrierten arabische Bewohner dabei 67 Juden in Hebron. Diese Ereignisse tauchen in der Ausstellung nicht auf.

Die Auseinandersetzungen zwischen 1936 und 1939 verharmlost die Ausstellung. Sie stellt ihn als bloßen Aufstand gegen ungerechte Verhältnisse dar, der letztlich von der britischen Mandatsmacht mit Unterstützung der Zionist*innen brutal niedergeschlagen worden sei. Die antijüdischen Ausschreitungen sind ihr hingegen keine Silbe wert, ebenso wenig wie die Stimmungsmache in der arabischen Welt. Antijüdische Hetze betrieben nicht zuletzt die 1928 in Ägypten von Hassan al-Banna gegründeten Muslimbrüder, die noch heute der Bezugspunkt für die islamistisch-antisemitische Hamas sind.

Überhaupt keine Erwähnung in der Ausstellung findet Mohammed Amin al- Husseini, obwohl er einer der Anführer des Aufstandes war. Der Mufti von Jerusalem war eine der Schlüsselfiguren im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts. Er ist zentral, um die Ausbreitung des Judenhasses in vielen arabischen Ländern zu verstehen. Dass die Ausstellung ihn gar nicht erwähnt, ist bezeichnend und unterstreicht die Einseitigkeit.

Als einer der höchsten religiösen Führer stachelte er in unzähligen Stellungnahmen den Judenhass an. Er wandte sich strikt gegen jede Verständigung mit der jüdischen Bevölkerung. Er spielte ferner eine unrühmliche Rolle bei dem judenfeindlichen Pogrom 1941 im Irak, dem Farhud, bei dem hunderte Juden und Jüdinnen ermordet wurden. Später fand er als Verbündeter des NS-Regimes Aufnahme in Deutschland. Dort verbreitete er über einen Radiosender antijüdische Propaganda in die arabische Welt. Außerdem warb er Muslime für eine SS-Division auf dem Balkan an. Auch deshalb nahmen ihn die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsverbrecher zunächst fest.

Husseini stand für ein panarabisches, antisemitischverschwörungsideologisches Denken, das er mit allen Mitteln verbreitete. Er förderte und unterstützte außerdem Jassir Arafat, den späteren Kopf der palästinensischen PLO. Ferner sprach er sich gegen jede einvernehmliche Lösung des Nahostkonflikts aus, sei es 1937 mit dem Peel-Plan oder 1947 mit dem UN-Teilungsplan.

Die Darstellung der Abläufe 1947/48 stellt die Ausstellung ebenfalls äußerst tendenziös dar. Die Fehler können nicht im Einzelnen dargelegt werden, deshalb soll hier vor allem eine falsche Behauptung aufgegriffen werden, die zentral für die Ausstellung ist. Sie legt nahe, dass die Zionist*innen die systematische Vertreibung der Palästinenser*innen schon lange geplant hätten, bevor der Staat Israel ausgerufen wurde. Diese Behauptung ist schlichtweg falsch, die ausgewählten Zitate darüber tendenziös. Die randständigen radikalen Positionen auf jüdischer Seite wie Irgun werden als repräsentativ dargestellt. Vielmehr waren auf jüdischer Seite immer mehr Stimmen zu vernehmen, die eine Verständigung suchten. Sie stießen aber bei der arabischen Seite auf so gut wie keine Resonanz.

Die Überlegungen zu einem Bevölkerungstransfer nahmen jedoch mit einer Zuspitzung der Situation im Unabhängigkeitskrieg tatsächlich zu. Die Ausstellung spricht hingegen beschönigend von „Bürgerkrieg“ und blendet aus, dass der neu ausgerufene jüdische Staat unmittelbar von sechs arabischen Staaten überfallen wurde. Sie machten keinen Hehl daraus, welches Ziel sie verfolgten, nämlich die Juden ins Meer zu treiben und das junge Israel zu vernichten. Damit befand sich der jüdische Staat direkt nach seiner Gründung in einem existenziellen Verteidigungskrieg. Die Vertreibungen der Palästinenser*innen waren deshalb vor allem die Folge der von arabischen Staaten provozierten kriegerischen Auseinandersetzung. Die große Mehrheit der Palästinenser*innen, die ihre Heimat verließen, flüchtete aufgrund der sich ankündigenden oder bereits stattfindenden militärischen Handlungen. Zum Teil wurden sie von israelischen Truppen vertrieben, zum Teil von arabischen Truppen evakuiert und zum Teil folgten sie den Aufrufen arabischer Staaten. Von den ca. 750.000 Palästinenser*innen gingen gut 300.000 in Nachbarländer, die Mehrheit in andere Regionen Palästinas.

Während des Krieges kam es außerdem in zahlreichen arabischen Ländern zu antijüdischen Pogromen. Deshalb flohen an die 600.000 Juden von dort, die Mehrheit, zionistischen Appellen folgend, nach Israel. Die Vertreibung dieser sefardischen Juden aus arabischen Ländern erwähnt die Ausstellung nicht.

Das Schicksal der vertriebenen Palästinenser ist zweifellos mehr als bedauerlich. Bis heute müssen viele von ihnen staatenlos in Flüchtlingslagern leben, nicht zuletzt weil die Aufnahmestaaten wenig bis nichts für ihre Integration tun und sie als politisches Druckmittel einsetzen. Da sich bei den Palästinenser*innen der Flüchtlingsstatus als einer der wenigen Gruppen von Generation zu Generation vererbt, ist ihre Anzahl auf mehr als vier Millionen angewachsen. Ihre Rückkehr nach Israel zu fordern, wie es die Ausstellung nahelegt, wäre das Ende des jüdischen Staates. Dieser Konsequenz sind sich wahrscheinlich alle bewusst, die eine solche Position vertreten. Damit stellen sie sich gegen eine konsensuale, politische Lösung und nehmen in Kauf, dass die Palästinenser*innen weiterhin unter grauenhaften Bedingungen leben müssen.

Die angeführten Punkte ließen sich noch ausführlicher darstellen und weitere Aspekte anführen. Die Einseitigkeit haben sie aber sicherlich deutlich gemacht. Die Ausstellung verschweigt zentrale Ereignisse und vor allem den Judenhass in der arabischen Welt, stellt viele Sachverhalte tendenziös dar und fördert damit eine einseitige Interpretation des äußerst komplexen Nahostkonflikts.

Sie suggeriert, sich für das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge einzusetzen, boykottiert aber faktisch die Möglichkeit einer Verständigung. Sie trägt somit nichts zum Frieden und zur Aussöhnung bei.

Der Evangelische Kirchentag 2023 tut deshalb gut daran, sie nicht erneut zu zeigen. Die Auseinandersetzung darum könnte aber zum Ausgangspunkt genommen werden, um den Nahostkonflikt und die Debatte um Israel wissenschaftlich und kontrovers mit unterschiedlichen Standpunkten zu behandeln. Daraus könnte eine fruchtbare Diskussion erwachsen. Genau dafür ist die Ausstellung „Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“ in ihrer jetzigen Form ein Hindernis.

Dr. Sebastian Voigt
München, den 06.06.2023

Fußnoten

  1. Benny Morris: 1948. A History of the First Arab-Israeli War. Yale University Press, New Haven (Ct) 2008. Das Buch erscheint dieses Jahr noch in deutscher Übersetzung: Benny Morris: 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg, Übersetzung: Johannes Bruns, Peter Kathman, Leipzig 2023.