Den Gottesdienst hielt stud. theol. Simon Nemet (Liturgie und Predigt)1
09. November 2025 | Universitätskirche Marburg
Predigt
Es ist frühmorgens.
Eigentlich noch nachts.
Kalt ist es, obwohl die Nacht gebrannt hat.
Das Licht der Straßenlaternen ist fahl im Aschenebel und hinter verrußten
Lampenschirmen.
Still ist es, nachdem der Lärm aus Schreien und Zerstörung verebbt ist.
Man hört nichts.
Nur ein leises Knirschen.
Glassplitter haben sich in die Schuhsohlen gebohrt.
Die knirschenden Schritte gehören zu einer jungen Familie auf der Flucht.
Vater, Mutter, Kind.
Er: ein Zimmermann, ursprünglich. Seinen gelernten Beruf hat er schon lange nicht mehr
ausüben können. Hier und da ein paar simple Reparaturarbeiten, aber mehr nicht.
Sie: Jünger als er. Gerade frisch mit ihm verlobt. Überraschend schwanger geworden.
Eine andere Geschichte.
Und ihr Kind: in Lebensgefahr – wie seine Eltern. Darum dass er von dem Hause und
Geschlechte David war.
Diese Geschichte… ist wahr.
Sie hat sich bewahrheitet.
Nach mehr als eineinhalb tausend Jahren.
Ich durfte dieses Jahr an der interdisziplinären Exkursion2 nach Berlin, Krakau und Auschwitz teilnehmen.
Durch diese Erlebnisse haben all die Geschichten, die ich zum Teil schon seit dem Kindergottesdienst kenne, eine ganz neue Tiefe bekommen.
Mein Theologie-Studieren hat eine ganz andere Tiefe bekommen und mein theologisches Nachdenken wurde während der Exkursion herausgefordert:
Die sein Beginn der Menschheit nervenaufreibende Frage aller Fragen, warum Gott dieses Schrecken, dieses Leid zulassen konnte, wurde für mich eher zur Frage, ob Gott das überhaupt alles aushalten konnte – und wie?
Aber daneben drängte sich mir in allen Gedenkstätten und Museen eine Erkenntnis ganz besonders auf: Die biblischen Geschichten – einige, nicht alle – sind tatsächlich passiert! In einem ganz anderen zeitlichen und geographischen Kontext. Aber sie sind passiert!
Sie sind unsere Geschichte geworden!
Auch diese biblische Geschichte hat sich bewahrheitet:
Ein größenwahnsinniger Machthaber beschließt, die Menschen jüdischen Glaubens in seinem Land aufs Heftigste zu unterdrücken.
Aus Angst, sie könnten ihm gefährlich werden.
Er schürt die Angst der Bevölkerung vor den Fremden.
Seine Soldaten hetzt er zur völligen Skrupellosigkeit auf.
Die neugeborenen Söhne der jüdischen Bevölkerung lässt er umbringen.
Damit sie sich bloß nicht weiter vermehren.
Nur ganz wenige konnten gerettet werden.
Und nur ganz wenige der Geretteten sind wieder zurückgekommen, um Befreiung zu fordern.
Etwas Weiteres hat sich bewahrheitet:
Ganze Familien werden an einen anderen Ort zitiert, um dort vom Imperium eine Nummer zu erhalten.
„Volkszählung“ nennen wir das im biblischen Kontext.
„Häftlingstattoo“ im zeithistorischen.
Und dieser Teil der Geschichte ist auch wahr:
Im Ghetto – zusammengepfercht wie in einem Stall – mussten Mütter ihre Kinder zur Welt bringen, weil ansonsten kein Platz für sie in der Stadt war.
Und damit sind wir wieder bei der Familie auf der Flucht.
Im Gedenk-Museum in der ehemaligen Fabrik von Oskar Schindler in Krakau ist diese Familie als Set aus Holzfiguren dargestellt. Wie Marionetten sehen sie aus, die aus meiner Sicht eindeutig an die „Flucht nach Ägypten“ aus dem Matthäusevangelium erinnern:
Die Mutter hält das Neugeborene auf dem Arm, während sie auf einem Esel sitzt.
Der Mann, ihr Mann hält einen Koffer in der Hand. Mit der anderen führt er den Esel, vorbei an jüdischen Grabsteinen.
Um seinen Arm trägt er die Binde mit dem Davidstern.
Diese Darstellung zu sehen, hat mich erschüttert.
Es lief mir eiskalt den Rücken runter und Tränen schossen mir in die Augen, weil mir klar wurde, wie die Bibel erschreckend treffend in andere Zeit-Kontexte hineinspricht und somit wirklich zu einem Buch der Erfahrungsberichte wird, in denen sich Generationen für Generationen immer wieder selbst erkennen.
Ich stelle mir vor, wie sich auch das Paar auf ihrer Flucht in den biblischen Texten wiedergefunden hat.
Ich stelle mir vor, wie ihnen das Gebet ihrer Vorfahren in den Sinn kommt und sie mit bebenden Herzen die uralte Klage des Psalms 74 zu ihrer eigenen machen:
1 Warum, Gott, hast du uns für immer verstoßen? Warum lodert dein Zorn gegen die Schafe auf deinem Weideland?
2 Denk doch an deine Gemeinde! Vor Urzeiten hast du sie erworben. Du hast diesen Stamm als dein Eigentum freigekauft. Es ist der Berg Zion, auf dem du wohnst.
3 Geh zu den Trümmern, die für immer daliegen! Alles haben die Feinde zerstört im Heiligtum.
4 Mit Gebrüll stürmten sie deine Versammlungsstätte. Auf dem Platz stellten sie ihre Feldzeichen auf.
5 Mit erhobenen Äxten schlugen sie drein, wie man sie im Dickicht des Waldes schwingt.
6 Sogar all die kostbaren Schnitzereien schlugen sie entzwei mit Beil und Hammer.
7 Dann steckten sie dein Heiligtum in Brand. Den Ort, an dem man deinen Namen lobte, entweihten sie bis auf den Grund.
8 Sie hatten bei sich beschlossen: »Wir zwingen sie in die Knie, alle zusammen!« Sie verbrannten alle Gotteshäuser im Land.
Psalm 74,1–8
Dunkel ist es, und kalt.
Mir ist kalt, diesen Text heute am 09. November zu lesen.
Ich bin erschrocken, als ich ihn entdeckt habe.
Erschrocken, weil diese Volksklage Israels – die über zweieinhalb tausend Jahre alt ist und inhaltlich wohl auf die Zerstörung Jerusalems 587 v.Chr. eingeht – weil diese Volksklage heute und morgen vor 87 Jahren im wahrsten Sinne des Wortes „brandaktuell“ war.
Die biblischen Texte erinnern uns an die Geschichte des jüdischen Volkes Israel und an die Geschichte jüdischer Menschen hier in Deutschland und in Europa.
Die Worte des Psalms müssen den jüdischen Menschen in jener grausamen Nacht und sicherlich weit danach noch aus den Seelen gesprochen, wenn nicht geschrien, haben.
Die Geschichte ihrer Vorfahren wiederholte, sie ver-gegenwärtigte sich.
Der Boden, auf dem wir gehen, ist zu unheiligem Land gemacht worden. Weil Menschen diskriminiert, verfolgt und sogar getötet wurden, weil sie in so vielen Facetten „anders“ waren und nicht in das ideologisierte Menschenbild einer Nation gepasst haben.
Wie erschreckend ähnlich klingt das beschämende Stadtbild-Gerede unserer Tage?
Die biblischen Texte erinnern uns nicht nur, sie ermahnen uns.
Weil sie noch immer in unsere Zeit hineinsprechen!
Weil sie sich noch immer bewahrheiten:
Wenn jüdische Menschen immer noch Angst haben müssen vor verbalen und handgreiflichen Anfeindungen auf der Straße oder in öffentlichen Einrichtungen und wenn ihre Gebetshäuser noch immer nicht sicher sind.
Weil sich Antisemitismus wieder im Alltag ausbreitet.
Weil jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit das Eigentliche ist, das unser Stadtbild beschmutz und unser Zusammenleben vergiftet.
Sie bewahrheiten sich, wenn in diesem Land und auf dieser Welt Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer Sexualität, ihrer gender Identität, ihrer Behinderung oder ihrer politischen Überzeugungen immernoch ausgegrenzt, diskriminiert und in so vielen Ländern noch immer denunziert, verfolgt, gefoltert und sogar zum Tode verurteilt werden.
Das muss aufhören! Um Gottes willen!
„Wie lange noch?!“ – will ich einstimmen in die Klagen unserer Geschwister!
„Wie lange noch?!“
Wir sind nicht schuld an den Verbrechen der Vergangenheit.
Aber wir sind dafür verantwortlich, dass sie niemals wieder geschehen!
Nie wieder darf sich der Geist des Hasses so weit ausbreiten, dass er Leben zerstört!
Nie wieder!
Unser Erinnern, unser Gedenken, muss verändern.
Uns selbst und die Zeit, in der wir leben.
Wir gedenken, indem wir Gott das Leid unserer Mitmenschen klagen, indem wir wütend sind über die Herzlosigkeit unserer Tage.
Wir gedenken, indem wir anklagen, wenn unsere Demokratie angefeindet wird und Menschen ihrer Rechte beraubt werden.
Wir gedenken, indem wir uns ermahnen lassen und auch selbst dazu ermahnen: „Seid Menschen!“
Der Tag heute – bzw. besser gesagt das heutige Datum – lebt in einer eigentümlichen Ambivalenz, in einer für mich fast unaushaltbaren Spannung aus historischen Lichtblicken – mit der Ausrufung der Weimarer Republik und dem Mauerfall auf der einen Seite – und der Reichspogromnacht auf der anderen Seite, die ihre Schatten seither, bis heute, auf dieses Datum wirft.
Umso ringender suche ich danach, welche frohe Botschaft, welche gute Nachricht ich Ihnen und euch heute verkünden kann…
Für mich ist eine gute Botschaft die:
Unsere jüdischen Geschwister im Glauben daran, dass Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit war, ist und sein wird, sie sind und bleiben das von Gott auserwählte Volk!
Wenn von der Erwählung des „Volkes Israel“ die Rede ist, so wie auch etwa im Lesungstext, dann tun sich damit gerade in unserer Zeit Abgründe und politische Konflikte auf, auf die ich heute nicht eingehen möchte.
Ich möchte den Fokus ein wenig verschieben – weg von der Nation, hin auf das jüdische Glaubensvolk, das sich Israel nennt, weil ihr Glaubensvorfahr Jakob nach seinem Ringen mit Gott Israel hieß.
Die Erwählung des jüdischen Glaubensvolkes Israel ist mit der Liebe Gottes ver-bunden und meint daher Gottes Versprechen, dieser Glaubensgemeinschaft für immer treu zu bleiben.
Versprochen ist versprochen!
Was ist der Mensch, dass er dieses Versprechen, dieses Bündnis bricht?!
Gott ist treu, er gedenkt ewig an seinen Bund!
Und mit diesem geht Gottes Parteilichkeit für die Opfer der Geschichte einher.
Das ist für mich eine gute Botschaft dieses Tages!
Bleibende Treue,
Parteilichkeit Gottes
und Geschwisterlichkeit im Glauben
– das sind gute Nachrichten!
Auch wir sind Teil des Bundes Gottes, auch wir gehören zu Gottes auserwähltem Volk – durch Jesus.
Man sehe mir diese Jesusschleife nach, sie ist volle Absicht.
Denn ich halte für wichtig, auch auf diese Wahrheit hinzuweisen:
Durch Jesus sind wir mit hineingenommen in die Bundestreue Gottes mit dem Judentum, weil er selbst gläubiger Jude war!
Durch ihn, den wir Christus nennen – durch ihn und mit ihm und in ihm – gehören auch wir zum Bund Gottes – nicht zum neuen, sondern zum erneuerten, zum bestätigten Bund Gottes.
Jesus hat als gläubiger Jude die Welt verändert, angefangen mit seinem eigenen sozio-historischen Kontext.
Und wegen seiner religiös motivierten Haltung gegen das Establishment und wegen seines religiös motivierten sozialpolitischen Handelns wurde er vom Imperium seiner Zeit zum Tode verurteilt.
Ihn zu erinnern – als Christ*innen –, heißt, das Judentum zu erinnern und es zu achten.
Ihn zu erinnern, heißt, uns von Neuem bewusst zu machen, dass die Treue Gottes der Welt, so wie sie ist, widerspricht.
Ihn, Jesus, zu erinnern, heißt, ihn zu verkörpern:
Indem wir – wie er – unsere Stimmen erheben, laut werden und uns einsetzen für die Ausgegrenzten unserer Zeit, wenn politische Autoritäten es offenbar nicht tun.
Ihn zu erinnern, heißt, den Hass zu überwinden und in die Schranken zu weisen.
Ihn zu erinnern, heißt, sich immer wieder auf seinen Bund des Friedens zu besinnen – also quasi sich neu zu „ver-bünden“. Und neu zu beginnen – ganz neu.
Dann berühren sich Himmel und Erde, damit Friede wird unter uns.
Wir müssen uns um Gottes willen erinnern.
Um Jesu willen.
Unser Gedenken ist dabei zweiseitig:
Es ist einmal, daran zu denken, wie Millionen von Menschen wegen nationalistischen Wahnsinns ums Leben kamen.
Das ist die dunkle Seite.
Und: Es ist die Vergegenwärtigung – das Ins-Heute-Holen – der Bundestreue Gottes, indem wir darauf hören und selbst weitersagen, dass vor Gott kein Ansehen der Person gilt, sondern allein Gottes Versprechen der Liebe und der Treue zu seinen Menschen – damals, heute und in Zukunft!
Das ist die helle Seite.
Nur wenn unser Gedenken diese beiden Seiten hat, dann kann in ihm auch Evangelium liegen, dann kann es selbst zu einer guten Nachricht werden.
Evangelium meint dann nicht die Entlastung von all dem Schweren, das die Vergangenheit uns auferlegt, sondern es heißt dann vielmehr Befähigt-Werden, das Belastende auszuhalten und es verantwortungsvoll tragen zu können.
Unser Gedenken soll uns stärken.
Unser Erinnern möge uns Kraft geben, unser Hier und Jetzt so zu gestalten, dass wir in eine helle Zukunft, eine Zukunft des Friedens gehen können.
Gott stärke uns dazu!
Gott gebe uns viel Barmherzigkeit und Frieden und Liebe!
Amen.