Widerspruch: Antisemitismus in alt-neuen Gewändern

Zu einem Beitrag von Ulrich Duchrow

Jonas Leipziger

© LIT Verlag

»Jenseits von Luthers Feindbildern« lautet der Untertitel des 2017 im LIT-Verlag erschienenen siebten Bandes der Reihe »Die Reformation radikalisieren«.1 Der Aufsatz »Palästina/Israel als Beispiel von kolonialistischem Kapitalismus in theologischer Perspektive«2 des Heidelberger evangelisch-systematischen Theologen Ulrich Duchrow kann jedoch kaum als Beitrag zur Überwindung von Feindbildern im Kontext evangelischer Perspektiven auf Israel und Palästina dienen. Vielmehr verfestigt Duchrow Klischees, Stereotypen sowie Unterstellungen und weist höchst problematisch-einseitige Argumentationslinien im Hinblick auf Zionismus, auf Israel, aber auch auf gegenwärtiges wie antikes Judentum3 auf (bei Duchrow: »Judaismus«). Vom gegenwärtigen jüdisch-christlichen Dialog bleibt nichts anderes übrig als ein Zerrbild, das JüdInnen wie ChristInnen als unkritisch und naiv erscheinen lässt.

Der Nahostkonflikt wird dabei nicht nur auf den israelisch-palästinensischen Konflikt reduziert, sondern alleine auf Schuld und Verantwortung des Staates Israel: Verantwortung für den Konflikt im Nahen Osten und für die Situation der PalästinenserInnen trägt in Duchrows Analysen lediglich der Staat Israel: Mit keinem Wort erwähnt er dabei die Rolle der im Gaza-Streifen herrschenden terroristischen Organisation der Hamas, die der inzwischen ebenso wenig demokratisch legitimierten Führung der Palästinensichen Autonomiebehörde durch Abbas, Bedrohungen des Staates Israel und terroristische Angriffe wie Attentate auf die israelische Bevölkerung, legitime Verteidigungsinteressen der israelischen Regierung, innerisraelische Kritik oder kritischen Umgang mit den zionistischen Narrativen. Israel ist dämonisiert der alleinige Aggressor und für Duchrow der ›ganz andere Staat‹, geradezu das Negativbeispiel per se:

»Im westlichen Imperium ist der Staat Israel mit seiner gegenwärtigen Politik also ein weiteres Extrembeispiel der westlichen kolonialistischen, kapitalistischen, imperialen, wissenschaftlich-technischen, rassistischen, gewalttätigen Eroberungskultur, wie sie sich in den letzten 500 Jahren entfaltet hat.« (179)

Duchrow verbindet seine Analysen der politischen Situation in Israel und Palästina mit antikapitalistisch-ökonomischen Argumenten, die darin gipfeln, Israel bewussten ökonomischen Nutzen im Nahostkonflikt vorzuwerfen. Er behauptet, Israel würde »die Unterdrückung der Palästinenser profitabel vermarkten«: »Der Krieg gegen den Terror nützt dem zionistischen Staat enorm, denn er produzierte immer mehr Terroristen und damit – Profit […]. Die Wirtschaft Israels braucht keinen Frieden« (175). Nicht neu, aber in der Wiederholung nicht unproblematischer werdend, ist die Bezeichnung Israels als »ein klarer Fall von Apartheidsystem« (177). Auch dabei jedoch bleibt Duchrow nicht stehen: Die »Intention« Israels sei es, »die Menschen minderen Rechts komplett loszuwerden und die Übrigbleibenden zu Gettoisieren wie Gaza.« Duchrow scheint der Autorin Petra Wild kritiklos zuzustimmen, dass »Apartheid, Ethnische Säuberung und schleichender Genozid«4 Elemente der Politik Israels sind. Er unterstellt damit – zum Teil implizit und zum größeren Teil explizit – ohne jegliche Belege, dass Israel eine planvolle Vernichtung der PalästinenserInnen, »ethnische Säuberungen« und damit einen »Genozid« durchführe, sowie Ghettos errichte (178).

Das Netzwerk »Kairos Europa«, so Duchrow weiter, versuche mit einer theologischen Arbeitsgruppe, »Menschen, die im jüdisch-christlichen Dialog engagiert sind, mit der Realität Palästinas bekannt zu machen und so ihre bedingungslose Unterstützung des Staates Israel und seiner Politik zu problematisieren.« (196) Dabei hebt er die »ursprünglich[e]« Aufgabe des christlich-jüdischen Dialogs als Überwindung von Antijudaismus hervor, sieht den aktuellen Stand dieses interreligiösen Gespräch aber in einem anderen Zustand und wirft den im jüdisch-christlichen Dialog engagierten ChrisInnen eine von JüdInnen beeinflusste Einseitigkeit vor:

»Weil sie [scil. im jüdisch-christlichen Dialog engagierte ChristInnen; JL] aber so lange mit jüdischen Partnern zusammengearbeitet haben, die sich oft als bedingungslose Unterstützerinnen des Staats Israel herausstellten, verwickeln sie sich nun in Widersprüche im Blick auf die verschiedenen Dimensionen von Gerechtigkeit. Das Ziel, Gerechtigkeit gegenüber jüdischen Menschen walten zu lassen, gerät in Konflikt mit dem Ziel der Gerechtigkeit für die Opfer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Da sie aber eine langjährige Loyalität mit ihren z.T. unkritischen jüdischen Partnerinnen verbindet, haben sie Schwierigkeit, ihrer Verpflichtung zu Gerechtigkeit den Palästinenserinnen gegenüber Raum zu geben.« (197)

Es geht nicht darum, dass Duchrow sich für Gerechtigkeit der PalästinenserInnen und einen palästinensischen Staat einsetzt, und auch nicht um Kritik an der israelischen Regierung oder Politik. Aber: Die politischen Wissenschaften und die akademische Antisemitismusforschung haben Kriterien entwickelt, die es erlauben, wie auch immer geartete und wie auch immer obsessiv vorgetragene legitime Kritik am Staat Israel und seiner Regierung zu unterscheiden von einer Argumentation, die in ihrer ›Israelkritik‹ zu israelbezogenem Antisemitismus wird. Genau dies ist in Duchrows Beitrag der Fall:

Zionismus sowie der Staat Israel werden dämonisiert, und dessen Politik wird explizit mit der Terrorherrschaft der nationalsozialistischen Diktatur verglichen. Israel ist der alleinige ›kolonialistische‹ Aggressor. Die meisten JüdInnen und auch die im jüdisch-christlichen Dialog engagierten ChristInnen erscheinen als einseitig ›verblendet‹ und machten sich schuldig, so scheint es die Grundhaltung Duchrows zu sein: Dass dieser Beitrag zusammen mit anderen ebenfalls problematischen Aufsätzen in dem Band »Religionen für Gerechtigkeit in Palästina-Israel. Jenseits von Luthers Feindbildern« erscheinen konnte, der zudem u.a. von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und fünf evangelischen Landeskirchen mitfinanziert wurde, ist ein Skandal, und zeigt einmal mehr, dass innerhalb des Protestantismus (israelbezogene) antisemitische Denkmuster noch lange nicht überwunden sind.

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Fußnoten

  1. Ulrich Duchrow/Hans G. Ulrich (Hgg.), Religionen für Gerechtigkeit in Palästina-Israel. Jenseits von Luthers Feindbildern (Die Reformation radikalisieren, Bd. 7), Berlin: LIT-Verlag, 2017
  2. Ulrich Duchrow, »Palästina/Israel als Beispiel von kolonialistischem Kapitalismus in theologischer Perspektive«, in: Ders./Hans G. Ulrich (Hgg.), Religionen für Gerechtigkeit in Palästina-Israel. Jenseits von Luthers Feindbildern (Die Reformation radikalisieren, Bd. 7), Berlin: LIT-Verlag, 2017, 166–202; im Folgenden beziehen sich im Text genannte Seitenangaben auf diesen Beitrag. Cf. ähnlich schon Ders., »Unterdrückung über Ausbeutung hinaus«, in: Alexander Dietz/Stefan Gillich (Hgg.), Armut und Ausgrenzung überwinden. Impulse aus Theologie, Kirche und Diakonie. Festschrift für Dr. Wolfgang Gern, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, 104–139
  3. Nicht weniger beladen von Klischees und eigenwilligen Interpretationen von Geschichte sind Duchrows biblische Hermeneutik und Blick auf das antike Judentum. Sein Ansatz, den Nahostkonflikt ökonomisch und antikapitalistisch zu deuten, macht auch vor dem antiken Judentum nicht Halt, was in der haltlosen Behauptung gipfelt, dass der Jerusalemer Tempel »nicht nur die Zentralbank, sondern auch das Zentrum des Handelns und aller Arten von Markttransaktionen« gewesen sei, »und das ganze verbunden mit einem Opfersystem, die die Armen ausbeutete«, während Jesus von Nazareth schließlich »das ganze Opfergeschäft (gestoppt)« habe (186
  4. Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013, 9