Alexander Deeg
Ein Neuanfang im Miteinander von Christen und Juden nach 1945 begann mit dem Erschrecken über die Schoa und über die kirchliche Mitschuld an Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern. Das Bekenntnis der Schuld steht folgerichtig am Anfang eines neuen Miteinanders, auf das sich bald auch zahlreiche Jüdinnen und Juden dialogbereit eingelassen haben. Im Kontext dieses Dialogs wuchs die christliche Einsicht in die Tiefe der Verwurzelung der Kirche im Judentum. Klassische Paradigmen, wonach mit und durch Jesus Christus das partikulare Israel seine heilsgeschichtliche Bedeutung verloren habe und sich christlicher Glaube als universaler und zugleich individueller Glaube letztlich auch ohne Bezug auf das Judentum definieren könne, verloren dadurch an Bedeutung. Historische Einsichten in die Dauer und Dynamik des wechselseitigen Ablösungsprozesses von Judentum und Christentum machten allzu lineare Deutungsmuster, wonach bereits sehr früh „Kirche“ und „Israel“ einander gegenüberstanden, unglaubwürdig und eröffneten neue Einsichten in die das entstehende Christentum prägenden jüdischen Kontexte. In jüngster Zeit werden darüber hinaus die bleibenden Wechselwirkungen von Christentum und Judentum durch die Geschichte hindurch intensiver wahrgenommen – und es zeigt sich, wie der Dialog beider Glaubensgemeinschaften zu zahlreichen neuen Entdeckungen und Anregungen für das Denken des Glaubens und die jeweiligen Praxisgestalten sein kann.1, H. 4); vgl. auch die Reihe „Two Liturgical Traditions“ sowie Alexander Deeg/Walter Homolka/Heinz-Günther Schöttler (Hg.), Preaching in Judaism and Christianity. Encounters and Developments from Biblical Times to Modernity, SJ 41, Berlin/New York 2008.] Zusammenfassend: Vom Erschrecken führte in den vergangenen Jahren ein Weg über die Einsicht in die jüdische „Wurzel“ bzw. die Entdeckung der jüdischen „Mutter“ hin zu der Erkenntnis des geschwisterlichen Miteinanders,2 das von jüdischen wie christlichen Forschern nicht selten analog zu dem Miteinander von Jakob und Esau gedeutet wird.3 Wie deren Beziehung nicht ohne Brüche und heftige Auseinandersetzungen bleibt, so kommen beide doch nicht voneinander los. Nach der Wiederbegegnung und Versöhnung ziehen Jakob und Esau zwar nicht unmittelbar miteinander weiter, bleiben aber doch in der Nähe und einander zugewandt (vgl. Gen 33).4
Freilich muss bei einer Verortung im Rahmen der Präambel bzw. des Grundartikels die Frage nach der Sprachgestalt einer Ergänzung in besonderer Weise berücksichtigt werden. Konkret bedeutet dies, dass nach dem Ort einer Ergänzung zu fragen ist, nach dem Inhalt und nach der sprachlichen Formulierung. Die etwa in der Diskussion um die Ergänzung des Grundartikels der Kirchenverfassung in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern vorgebrachten Bedenken beziehen sich zu Recht immer wieder auf diese Aspekte. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Vorgaben in den einzelnen Kirchen benenne ich drei grundlegende Kriterien:
Umgekehrt würde – nachdem etwa in Bayern der Prozess bereits angestoßen ist – eine Ablehnung der Ergänzung der Kirchenverfassung ein m. E. fatales Signal aussenden. All jene, die meinen, dass die Thematik „Kirche und Israel“ nicht so wichtig und eher ein Spezialthema sei, das unter den Dialog mit den Religionen fällt oder als rein ethische Fragestellung beschäftigen sollte, könnten auf eine gescheiterte Verfassungsdiskussion verweisen und damit argumentieren. Der m. E. zu Recht angeschobene Prozess würde sich so pragmatisch in sein Gegenteil verkehren.
3.4 Beispiel: Lesepraxis
Es fällt auf, dass zwar alle Kirchenverfassungen die Bindung an das „Zeugnis der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments“ betonen, dass aber in der kirchlichen Praxis noch immer vielerorts eine Marginalisierung des Alten Testaments zu beobachten ist. Dies gilt vor allem für die Lesepraxis im evangelischen Gottesdienst: Angesichts der Tatsache, dass meist höchstens zwei Lesungen vorkommen, geschieht es, dass nicht wenige Gemeinden alttestamentliche Lesetexte kaum hören. Auch die Unterrepräsentanz des Alten Testaments in den Predigtreihen ist ein Problem, das gegenwärtig zu Recht erkannt und an dem bei der Revision des Perikopensystems gearbeitet werden wird. Hermeneutisch wie liturgiepraktisch eröffnen sich zahlreiche Dialogmöglichkeiten und Lernpotentiale im Gespräch mit jüdischer Theologie.
Es erscheint mir aus praktisch-theologischer Perspektive dringend geboten, in den nächsten Jahren verstärkt danach zu fragen, inwiefern eine erneuerte Grundbestimmung des Kircheseins Konsequenzen für die evangelische Frömmigkeit/Spiritualität zeitigen kann und muss. An dieser Stelle bieten sich vielfältige ge- meindepädagogische Chancen: die Entdeckung einer Regelmäßigkeit und Alltäglichkeit von Frömmigkeit im Kontext einer jüdischen Praxis des alltäglichen Gebets sowie des Gebets am Schabbat, die Wiedergewinnung einer Lesepraxis, die das ritualisierte Lesen ebenso kennt wie das ‚verstehende‘, die Wahrnehmung des Zusammenhangs von Glauben und Werken (entsprechend der Praxis der Mizwot im Judentum), die Einübung in die Dynamik und Offenheit einer eschatologischen Ausrichtung des Glaubens, die Pflege einer Glaubensgewissheit im Kontext von Gottes „Erwählung“ jenseits arroganter Selbstüberschätzung anderen gegenüber u.v.a.
Noch sind keineswegs alle Fragen geklärt, die sich im Kontext des christlich-jüdischen Miteinanders stellen. Die Diskussion um die Legitimität (heiden-)christlicher Judenmission gehört ebenso zu den offenen und umstrittenen Fragen wie die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer theologischen Würdigung des Staates Israel. Ebenso ungeklärt erscheinen nach wie vor die Begriffe „Erwählung“ bzw. „Gesetz“.17Wichtig ist aber, dass diese Fragen durch die momentan vorliegenden Ergänzungen in Kirchenverfassungen (wie auch durch die geplante Ergänzung des Grundartikels der Kirchenverfassung der ELKB) nicht entschieden werden. Im Gegenteil ermöglichen diese Ergänzungen (auf der Grundlage eines in seiner Wichtigkeit betonten und in seiner positiven Bedeutung für das Kirchesein der Kirche Jesu Christi geklärten Verhältnisses!), an den anstehenden Fragen weiter zu arbeiten, ohne dadurch die Grundlagen des im christlich-jüdischen Gespräch Erkannten jeweils neu definieren zu müssen. Anders und kürzer: für eine entspannte Weiterarbeit bieten die Verfassungsergänzungen die befreiende Basis.
Zusammenfassend: Eine Ergänzung der Grundartikel/Präambeln der Kirchenverfassungen erscheint mir aus den genannten Gründen naheliegend und geboten. Zu achten ist dabei insbesondere auf die Verortung und Sprachgestalt dieser Aussagen. Für die praktische Arbeit in den Gemeinden steht durch die Ergänzung eine notwendige Intensivierung der Verankerung der mit der Thematik „Kirche und Israel“ verbundenen Einsichten in der kirchlichen Praxis zu erwarten.
Zuerst erschienen in: Texte aus der VELKB 161 (2002)