Nun gehe hin und lerne!

Lernschritte auf dem Weg zu einer christlichen Theologie in Israels Gegenwart

Vortrag von Prof. Dr. Klaus Müller, anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an die Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK), im Festsaal der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

„Was dir nicht lieb ist, füge auch keinem anderen zu. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung – nun gehe hin und lerne!“ So einfach und schlicht hätte es sein können auch im Verhältnis von Christen und Juden. Einfach und schlicht wie in der Goldenen Regel aus dem Munde des weisen Hillel an die Adresse des Suchenden und nach Weisung Fragenden. Ebenso elementar wie fundamental, ins Tun einweisend, einen Weg eröffnend. So einfach – und in der Geschichte über Jahrhunderte – zumal in der christlich-jüdischen – so schwer.

„Nun geh hin und lerne“ – geh lernend einen Weg: für die christliche Kirche und ihre Theologie ein langer Weg heraus aus Argwohn und Missgunst gegen die Juden hin zu einer Weggemeinschaft – hier und heute! – mit dem bleibend erwählten Volk Gottes. Und das könnte ja schon der entscheidende Lernschritt sein, das Gottesvolk als Größe der Gegenwart wahrzunehmen und nicht immer nur in der Vergangenheitsform vom Judentum zu sprechen.

Die Basisgeschichte aus dem Talmud ist schnell erzählt: „Einst trat ein Goj/ein Mensch aus der Völkerwelt vor Schammai und sprach zu ihm: Mache mich zum „Proselyten“/bring mich heran an deine Religion unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum „Proselyten“/eröffnete ihm einen Zugang und sprach zu ihm: Was dir verhasst ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung. Geh und lerne!“ (Babylonischer Talmud, Schabbat 31a).

Der Talmud illustriert mit dieser Episode zunächst einmal die Sanftmut und Geduld Hillels im Gegensatz zum Jähzorn Schammais. Hillel – wohl gegen Ende des 1. Jh. vor unserer Zeitrechnung aus Babylonien nach Eretz Israel eingewandert – ihm gebührt denn auch nach Aussagen des Talmud (ebd.) höchstes Lob aus dem Munde des herzugekommenen Fremden: „O sanftmütiger Hillel, mögen Segnungen auf deinem Haupte ruhen, denn du hast mich unter die Fittiche der Gottesgegenwart gebracht.“

Besagte Goldene Regel findet sich in der jüdischen Tradition seit dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, und zwar zunächst im hellenistisch-jüdischen Bereich. Das Buch Tobit formuliert als Weisung des Vaters an seinen Sohn vor dessen Aufbruch in die Fremde: „Und was du hassest, das tue keinem an!“ Bei Philo findet sich die Sentenz: „Was jemand selbst zu erleiden verabscheut, soll er selbst nicht tun.“

Die aramäische Bibelübersetzung versteht die Goldene Regel als Äquivalent des Gebotes der Nächstenliebe, insbesondere des „wie dich selbst“ bzw. „wie du selbst“: Lev 19,18 heißt dann im Targum rückübersetzt: „Du sollst deinen Nächsten lieben; denn was dir unliebsam ist, sollst du auch deinem Nächsten nicht tun“ (Targum Pseudo-Jonathan).

In der Verkündigung Jesu – eine halbe Generation nach Hillel – begegnet uns die Goldene Regel bekanntlich ebenfalls als Inbegriff der göttlichen Weisung. In ihr sind „Gesetz und Propheten“ zusammengefasst (Mt 7,12); sie motiviert zu Feindesliebe und Gewaltverzicht (Lk 6,31). Nach der Apostelgeschichte (15,20.29 in den Handschriften der sogenannten westlichen Textform) wird den neu bekehrten Christen aus den Völkern die Enthaltung von Götzendienst, Unzucht sowie Blutvergießen auferlegt und mit der Befolgung der Goldenen Regel verbunden. Die weitere frühchristliche Tradition führt diese Linie fort.

Hillels Antwort an den Bekehrungswilligen ist im besten Sinne universelle Weisheitsregel. Den Ausdruck „Goldene Regel“ hat erst das 19. Jahrhundert geprägt – ihr Gehalt lässt sich indes weit zurückverfolgen, gerade auch in außerbiblische Kulturen. Von Herodot bis Konfuzius, von Thales bis Seneca, vom Hinduismus bis zum Islam – Hillels Wendung scheint geradezu auf ein Erbe der Weltkultur zu verweisen, findet schließlich als Wandmosaik Eingang ins Konferenzgebäude der Vereinten Nationen in New York.

Dass dieser Satz gerade in seiner universalen Weite jüdisch und christlich als Quintessenz der religiösen Tradition fungieren kann, ist von nicht zu überschätzender Bedeutung – und führt mich zu einem ersten Lernschritt in Hillels Schule:

1. Das Judentum teilt mit der Völkerwelt die Summe der Tora. Die Kehrseite dessen: Der Schlüssel zur Tora Israels liegt in einer prä-jüdischen Weisheitsregel, einem Kernsatz der Menschheitsethik.

Hillels Antwort auf die Frage nach der „ganzen“ Tora gehört in die Reihe der Grundmotive, mit denen die rabbinische Tradition den innersten Gehalt der göttlichen Weisung zusammenzufassen sucht. So kann etwa der Dekalog – insbesondere seine zweite Hälfte – als Summierung der Tora verstanden werden (vgl. Mt 19,18f; Röm 13,9f; Jak 2,8-11) oder auch das Doppelgebot der Gottesliebe und Nächstenliebe.

Ein klassisches – und für das rabbinische Judentum hervorragendes – Beispiel, die Tora auf den Punkt zu bringen, ist der Dialog zwischen Rabbi Akiva und Ben Azzai. Rabbi Akiva – aus der Schule Hillels – knüpft an das Gebot der Nächstenliebe in Levitikus 19,18 den Satz: „Das ist eine große Regel in der Tora.“ Ben Azzai zitiert demgegenüber Genesis 5,1: „Dies ist das Buch von Adams Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes“ – und Ben Azzai fügt hinzu, dies sei eine „noch größere Regel“ (Sifra zu Lev 19,18; Midrasch Genesis Rabba zu Gen 5,1). Ich denke, dass beide Regeln sich besprechen und miteinander korrelieren: Die Wechselseitigkeit, die Gegenseitigkeit menschlicher Zuwendung und die Einsicht in die Einheit des Menschengeschlechts aufgrund der Gottesebenbildlichkeit jedes Einzelnen spielen zusammen. Geh hin und lerne – es könnte so einfach sein – auf jeglicher Bühne, der kleinsten nebenan und auf der großen Bühne der Weltpolitik. Der Nächste – Ebenbild Gottes!

Hillels Auskunft gegenüber dem nichtjüdischen Menschen weist auf das bleibend Konstitutive und Essentielle der Tora Israels. Die Goldene Regel ist ihm ein Verstehensschlüssel zu aller, zur ganzen vollen Lebensweisung Gottes. Keine Rede davon, dass hier der fragende Mensch aus der Völkerwelt mit einem Mini-Ethos für Anfänger abgespeist werden sollte! Der Schlüssel zum Ganzen. „Geh und lerne!“ Die Regel findet ihre Entfaltung in der Tora – und diese wiederum wird an das Wesentliche ihrer Substanz erinnert durch die universelle Regel.

Es ist nicht die alle Fragen lösende Weltformel, die Hillel dem Bittsteller hier an die Hand gibt, sondern eine hermeneutische Unterscheidungshilfe für den langen und weiten Weg des Erschließens und Verstehens der ganzen Weisung. Hillel will nicht ein zeitloses Prinzip aus der Tora extrapolieren, sondern in das Studium der Schrift einführen. In diesem Sinne ist er nicht Ex-eget (Aus-leger), sondern Paidagogos mitten hinein in die Tora.

Ich gehe diesen Weg mit und versuche Rechenschaft darüber zu geben, was aus Hillels Spruch und Haltung zu lernen ist und komme zu einem zweiten Lernschritt:

2. Theologie ist Theologie für den Menschen; Religion soll dem Menschen zugewandte Religion sein.

Der Unterschied zwischen den beiden „Typen“ Hillel und Schammai ist ja nicht so sehr der Unterschied zwischen „soft“ und „streng“, sondern die Frage nach dem Fokus unserer Religiosität. Hillels Option heißt: Menschenliebe ist Kriterium für Treue zur Tora. Die Affinität zum Humanum ist Signatur der Weisung Gottes.

Mir wurde das nochmals deutlich in einer vermeintlichen Petitesse, dem Streit zwischen den beiden Lehrauffassungen im Talmud um das rechte Entzünden der Chanukkalichter. „Wie ist das Gebot der acht Chanukkalichter auszuführen?“ Die Schule Schammais lehrt, man solle am ersten Tag acht Lichter anzünden und dann an jedem Tag ein Licht weniger, sodass am letzten Chanukkatag noch eine Kerze brennt. Die Schule Hillels dagegen lehrt anders: Am ersten Tag zünde man eine Kerze an, und dann jeden Tag eine mehr, bis am letzten Tag der volle Chanukkaleuchter brennt (Babylonischer Talmud Schabbat 21b).

Hillel, Gott sei Dank! Sachwalter menschlicher Empfindungen und Regungen, denen ein menschenfreundlicher Gott empathisch nahe kommt. In Zeiten zunehmender Dunkelheit braucht es mehr Licht, nicht weniger. Das gilt jahreszeitlich ebenso wie tiefenpsychologisch und weltpolitisch – damals und heute. Obwohl historisch-political-korrekt, wie ein „Schammai“ nun mal denkt, ist das Ölwunder zu Chanukka logischerweise umgekehrt von Gott gewirkt und wird eben auch so erzählt: Am ersten Tag das volle Licht und dann während der folgenden acht Tage immer schwächer werdend und schließlich verlöschend. Doch was Mensch braucht – zu Hillels Zeiten und heute auch – ist: „Mehr Licht!“

Das lerne ich gerne aus der jüdischen Tradition, dass Gottes Gebot auf Leben aus ist, dass Tora nicht lutherisch-orthodox eine lex accusans meint, ein anklagendes Gesetz, das mich überführt als zum Scheitern – um nicht zu sagen zum Scheiterhaufen – verurteilten Sünder. Alles schon mal dagewesen. Geh und lerne Neues!

„Viel Tora, viel Leben“, auch das lässt die Mischna Hillel sagen (Avot 2,7). Die Tora birgt in sich die fundamentale Option für das geschöpfliche Leben. Die Rabbinen nennen diese Grundoption für das Leben bekanntlich: piqquach näfäsch; zu deutsch: Erhaltung und Förderung des Lebens. piqquach näfäsch – ich übersetze: das offene Auge für das Leben, Augenmerk für den Menschen. Es geht um eines der weitreichendsten Grundprinzipien rabbinischer Theologie, das abgeleitet ist aus Lev 18,5: „Der Mensch, der die Gebote tut, soll durch sie leben.“ Die talmudische Auslegung (Yoma 85b) knüpft daran den Grundsatz: Die Gebote sollen dem Leben dienen; ihr Sinn ist, das Leben zu fördern und nicht den Tod. Das ist Geist von Hillels Geist. Die Tora in Hillels Lesart kreist um das eine Grundanliegen: Leben. In jeder Hinsicht.

Eine köstliche Anekdote erzählt der Midrasch zum Buch Levitikus (25,25):

Was geschrieben steht in Prov 11,17: „gomel nafscho isch chässäd – ein Mann von chässäd tut sich selbst wohl“ – das weist auf Hillel den Alten. Wenn er von seinen Schülern sich verabschiedete, begleitete er sie und ging mit ihnen. Einmal fragten ihn seine Schüler: Rabbi! wohin gehst du? Er antwortete: Ein gutes Werk [eine mitsva] zu verrichten. Sie fragten: Welches denn? Er sprach: Ich will ins Bad gehen. Sie fragten: Ist denn das ein gutes Werk? Ja, gab er zur Antwort, denn wenn schon der, welcher über die Standbilder der Könige gesetzt ist, die man im Theater und im Circus aufzustellen pflegt, dafür bezahlt wird, dass er sie poliert und abspült, und nicht nur das, sondern auch bei den Großen der Regierung angesehen ist, um wieviel mehr wir, die wir im Bilde Gottes geschaffen sind, wie es heißt (Gen 9,6): „Denn im Bilde Gottes hat er den Menschen gemacht“.

Hillels „Pflege“ des Gottesbildes ist eine Lebenshaltung im Zeichen der Tora in Achtung und Wahrung der Würde des Menschen als Ebenbild Gottes. Geh hin und lerne!

Wer Hillel fragt, erhält den Fingerzeig auf eine Tora, die sich seit den Tagen des Exodus der Freiheit verdankt bzw. dem Gott, der sein Gottsein von allem Anfang an mit Befreiung aus der Knechtschaft verbunden hat. Tora ist Freiheit. Die Tafeln – laut Ex 31,18 „beschrieben von dem Finger Gottes“ – ein Werk Gottes waren sie, und die Schrift – Gottes Schrift, eingegraben (hebr.: charuth) auf den Tafeln (Ex 32,16). Dazu bemerkt Rabbi Joschua ben Levi im 3. Jahrhunddert: „Lies hier nicht charuth (eingegraben), sondern cheruth (Freiheit).“

Hillel erinnert daran, dass die Tora aus der Befreiung entspringt und in die Freiheit führt – eine einzige rabbinische Lehrstunde hätte Martin Luther davon abgehalten, seinen Ansatz von der Freiheit eines Christenmenschen in einer fundamentalen Antithetik zum Judentum zu entwickeln. Wir erinnern nach 500 Jahren mit großem Recht an Luthers Plädoyer für die Freiheit eines Christenmenschen – aber um Himmels willen doch nicht in Antithetik zum Judentum! Jetzt ist es schon etwas spät, geh hin und lerne, Bruder Martinus! Aber es ist noch nicht zu spät zu sagen: Geh und lerne, Kirche der Reformation im Jubeljahr 2017 und weit darüber hinaus.

Ich komme zu einem dritten Lernschritt in Hillels Schule:

3. Religion ist Interpretation.

Für mich ein entscheidender Lernschritt auf Geheiß des alten Hillel: Die ganze Tora in dieser einen Sentenz – „das Übrige ist Auslegung“. Wir haben ein Schlüssel-Wort empfangen – alles Übrige ist Auslegung.

Es wird für unsere Zukunft viel davon abhängen, ob wir zu diesem einen Satz bereit sind: Religion ist Interpretation. Jede Religion ist Auslegung – eines einzigen Grundgedankens, der uns übergeben ist und der lautet: Leben ist reziprok, Leben ist Gegenseitigkeit, Recht auf Leben zu empfangen und Recht auf Leben einzuräumen. Das ist das Herzstück in Hillels Message – das Übrige ist Interpretation, ist Über-Setzung, ist Transfer, ist Religion, ist Sozialpolitik.

„Geh (und) lerne! Zil gmor“, aramäisch: „Geh“ und: wörtlich „zieh aus dem Gehörten lernend die Konsequenzen“. „gmor“ – die Gemara, der ganze Talmud, die ganze Religion ist Transferlernen. Du hast den Diamanten in Rohform. Geh ihn schleifen und polieren! Er ist dir nicht auf wundersame Weise funkelnd vom Himmel in den Schoß gefallen. Ein etwas anderer Fokus als in Lessings Ringparabel! „Geh, interpretiere!“ Eine schlechterdings anti-funda-mentalistische Position, von der Vieles abhängen wird für unsere Zukunft in einer alles andere als religionslosen Zeit.

Die Antwort Hillels weist auf den Weg des Studiums der Tora in Freiheit und Verantwortung. „Sie ist nicht im Himmel“, zitieren die Rabbinen die Bibel, von dort auch nicht einfach per direktem Konnex abzurufen, sondern Gegenstand eines nie endenden Diskurses um die Halacha und damit um Kriterien und Konkretionen für verbindliches Gehen im Horizont des Gottesbundes. Halacha – Shari’a heißt das im Arabischen – aber das Entscheidende ist: die entsteht im Diskurs, nicht als Diktat von oben. „Geh und lerne!“ Dies ist der Horizont, der sich für den Menschen eröffnet, der sich durch Hillels Regel die Tora hat aufschließen lassen. Der rabbinische Disput ist unersetzbar der Ort, an dem sich der Sinai immer wieder ereignen kann.

Herausragendes Exempel rabbinischer Lern- und Streitkultur ist die Auseinandersetzung zwischen Rabbi Eli’ezer und Rabbi Jehoschua gegen Ende des 1. Jahrhunderts, den beiden größten Gelehrten ihrer Generation, in einer Detailfrage um die rituelle Reinheit eines Ofens mit bestimmter Bauart. Eli’ezer erklärt einen solchen Ofen für rein, Jehoschua und mit ihm die übrigen Rabbinen des Lehrhauses für unrein. Es entspinnt sich eine Debatte mit allen Tiefendimensionen rabbinischen Toraverständnisses:

Der Talmud erzählt so: An jenem Tage machte Rabbi Eli’ezer alle Einwendungen der Welt, man nahm sie aber von ihm nicht an. Hierauf sprach er: „Wenn die Halacha meiner Überzeugung entspricht, so mag es dieser Johannesbrotbaum beweisen!“ Da rückte der Johannesbrotbaum hundert Ellen von seinem Orte fort; manche sagen: vierhundert Ellen. Sie aber erwiderten: „Man bringt keinen Beweis von einem Johannesbrotbaum.“ Hierauf sprach er: „Wenn die Halacha meiner Überzeugung entspricht, so mag es dieser Wasserarm beweisen!“ Da trat der Wasserarm zurück. Sie aber erwiderten: „Man bringt keinen Beweis von einem Wasserarm.“ Hierauf sprach er: „Wenn die Halacha meiner Überzeugung entspricht, so mögen es die Wände des Lehrhauses beweisen!“ Da neigten sich die Wände des Lehrhauses und drohten einzustürzen. Da schrie sie Rabbi Jehoschua an und sprach zu ihnen: „Wenn die Gelehrten miteinander über die Halacha streiten, was geht dies euch an?!“ Sie stürzten hierauf nicht ein, wegen der Ehre Rabbi Jehoschuas, richteten sich aber auch nicht gerade auf wegen der Ehre Rabbi Eli’ezers; so stehen sie jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er: „Wenn die Halacha meiner Überzeugung entspricht, so mag es aus dem Himmel bewiesen werden!“ Da erscholl eine Himmelsstimme und sprach: „Was habt ihr gegen Rabbi Eli’ezer; die Halacha richtet sich stets nach ihm.“ Da stand Rabbi Jehoschua auf und sprach: „Sie ist nicht im Himmel“ (Dtn 30,12). Was heißt: „Sie ist nicht im Himmel“? Rabbi Jirmeja sagte: „Die Tora ist bereits vom Berg Sinai her verliehen worden; wir achten nicht auf eine Himmelsstimme, denn du hast schon am Sinai in der Tora geschrieben: ‘nach der Mehrheit zu entscheiden’ (Ex 23,2).“ Rabbi Nathan traf Elia den Propheten und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in jener Stunde tat. Dieser erwiderte: „Er lächelte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt.“ (Babylonischer Talmud, Baba Metsia 59b)

„Meine Kinder haben mich besiegt“ spiegelt die Genugtuung Gottes über die Mündigkeit und die Initiative seiner Bundespartner, das göttliche Gesetz in eine Weisung für das irdische Leben zu übersetzen. Rabbi Eli’ezers Reklamation absoluter Wahrheit taugt nicht; sie muss in eine Wahrheit für den Menschen und seine Lebensbezüge transponiert werden. Gott lächelt. Seine sich selbst begrenzende Liebe setzt Spielräume menschlicher Verantwortung frei und Kreativität im Aufspüren der gültigen Weisung. „Geh und lerne!“ Der „Fingerzeig“ in Richtung Tora ist darum kein rigider und verkrampfter, weil er letztlich auf den lächelnden Gott hinweist, dem nichts so sehr am Herzen liegt wie das Leben und die Freiheit und die Verantwortung seiner Geschöpfe.

Es hätte so einfach sein können im Verhältnis der Christen zu den Juden und ihrer Tora, einfach und schlicht nach Hillels Goldenem Spruch. Stattdessen war Widerspruch! Israel und dem lächelnden Gott ins Angesicht müssen wir zwischendurch – um ehrlich zu sein – 3 Denkweisen konstatieren, wie christlicherseits die Tora zum Spott wurde:

  1. Das erste Denkmuster ist das antithetische. Statt sich auf den Weg zu machen und zu lernen: Lust am Antithetischen! „Mit uns doch nicht!“ „Lass mich unverworren mit Mosen!“, notiert Martin Luther in seiner knappen Unterrichtung, wie sich Christen in Mosen sollen schicken“.
    Antithetik. Eine der Denkfiguren, die gerade in der deutschen Theologie stark gewirkt haben: Wir brauchen das Alte Testament als Negativfolie für das Neue, wir brauchen das Jüdische als dunklen Hintergrund, vor dem sich das Christliche umso deutlicher abheben kann.
    Führende Köpfe gerade der Theologie in Deutschland haben sich überboten mit Büchern und Artikeln über den „Vergeltungsglauben im Alten Testament“, über den „Lohngedanken im Spätjudentum“ (siehe KITTEL-Wörterbuch zum NT). Das Alttestamentlich-Jüdische wird also nicht etwa weggeworfen, sondern antithetisch festgehalten. Wir brauchen das Alte Testament, als ersten Teil der Bibel – es ist nämlich dazu da, „als ewiges Bild der im Evangelium verneinten Gesetzesreligion dem christlichen Selbstverständnis von Gott als Stachel zu dienen“ (Emanuel Hirsch).
  2. Der Übergang zum zweiten Denkmuster ist fließend, dem Modell der Überbietung des Alten durch das Neue oder auch der Erfüllung des Alten durch das Neue. Statt den Weg durchzuhalten: triumphaler Erfüllungsenthusiasmus! Wir sind schon da!
    Rudolf Bultmann schreibt in seinem programmatischen Aufsatz über die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben folgendes: „Der christliche Glaube reißt gleichsam das Alte Testament an sich und behauptet, daß das, was hier gesagt wird, einst nur in einem vorläufigen und beschränkten Sinne gesagt und verstanden werden konnte, daß es erst jetzt recht gesagt und gehört werden kann.“ In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist demnach rudimentär, verborgen und vorläufig durchaus schon da, was dann im christlichen Neuen Testament heller und besser und schöner zum Vorschein, zur Offenbarung, kommt. Das Gebot der Nächstenliebe zum Beispiel ist alttestamentlich natürlich bereits präsent (Lev 19,18), aber es kommt eben in seiner reinen und schönen Form erst zur Vollendung im Neuen Testament; es wird „qualitativ neu“ im Christentum.
    Qualitativ-essentiell Christliches findet auch Notger Slenczka ausschließlich erst im NT und dann ist es nur folgerichtig, das AT ins Reich des Vorchristlichen zu verfrachten.
  3. Die dritte Weise, der Tora ins Angesicht zu spotten ist das eklektische, das kontextlose Umgehen mit der Tradition Israels und seiner Tora. Statt den Weg der Tora zu gehen das Verweilen da und dort und die Lust am willkürlichen Herausbrechen aus dem jüdischen Torasteinbruch zum Zwecke christlicher Weiterverwendung! Das nenne ich eine theologisch verbrämte Supermarktmentalität!
    Ich sage nur: „Neues Testament und Psalmen.“ Gideon lässt grüßen. Da haben wir gerne Psalm 23 oder den Dekalog oder die Propheten (seien es die Sozialkritiker wie Amos oder die Verkünder der Heilszeit wie Deuterojesaja). Das Verfängliche an diesem Modell ist nicht so sehr das Aufnehmen alttestamentlicher Stoffe als solches, sondern die Art und Weise wie es geschieht: eben eklektisch, israelvergessen, ohne Bezug darauf, wohinein diese Texte primär gehören – nämlich ins Glaubensleben Israels.
    Mit einem solchen eklektischen Herausziehen einher geht ein von außen herangetragenes Bewerten und Beurteilen der anderen Tradition. Der Beurteilungsmaßstab dabei ist selbstverständlich ein christlicher. Wir Christen geben die Kriterien dafür aus, was an der alttestamentlichen Tradition für wertvoll zu erachten sei und was nicht. Und damit ist auch dieses dritte Modell ein triumphalistisches, weil selbstherrliches Modell.

Geh und lerne! Gott sei Dank. Es hat stattgefunden und vollzieht sich heute mehr und mehr in Lernschritten. Das Leitmotiv, das hinter alledem steht ist ein Paradigmenwechsel: weg vom triumphalistischen Zugang zur Tradition Israels hin auf ein emanzipatorisches Zugehen auf das Judentum und seine Tora. Das alte Paradigma ist brüchig geworden. Neue Erkenntnisse haben sich stark zu Wort gemeldet, neue biblisch gewonnene Einsichten in den: Ungekündigten Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel. Das neue Paradigma muss heißen: „Gottes Gaben und Berufung (an Israel) können ihn nicht gereuen“ (Röm 11,29).

Die Falsifikation des alten Paradigmas ist: Auschwitz. Vor diesem Datum zerschellt die alte Theologie: Das war – spätestens und ab dann unaufhaltbar in den 70ern und 80ern – die wegweisende Einsicht: dass die Kirche Jesu Christi durch ihre Theologie der Substitution Israels die Straße mitgeebnet hat, die nach Auschwitz führte – das ist die Falsifikation des alten Paradigmas.

Es braucht eine neue Weise christlichen Torazugangs, die Entscheidung zu einem völlig neuen theologischen Habitus im Umgang mit nichtchristlicher Tradition. Dabei geht es im Ansatz schlicht darum, das Selbstverständnis der anderen – eben der alttestamentlich-jüdischen Tradition zur Geltung kommen zu lassen, sich aussprechen zu lassen, sie zu Ende reden zu lassen (wie in einer gepflegten Diskussionskultur). Es geht darum, das nicht-christliche Traditionsgut zu emanzipieren von den christlichen Deutungskategorien, in die Freiheit zu entlassen aus dem Zugriff eines christlichen Vor-wissens und Besser-Wissens.

4. „O chavruta o mituta“

Geh und lerne: Ich beschreibe ausgehend vom alten Hillel schließlich noch einen vierten Lernschritt, dazu brauche ich Beide: Hillel und Schammai. Es geht um die Einsicht, dass du im halachischen Diskurs nur in Partnerschaft weiter kommst – „o chavruta o mituta“ – entweder Lerngemeinschaft oder Tod (ta‘anit 23b). Es geht um Weggemeinschaft unter Ungleichen. Es geht unterwegs um versöhnte Verschiedenheit. Auch zwischen Juden und Christen – diesen Schritt möchte ich weitergehen.

Von den beiden Häusern Hillel und Schammai heißt es: Sie stritten darum, welchem von beiden zu folgen sei – Wer hat die Halacha auf seiner Seite? Und dann fällt im Talmud (eruvin 13b) der atemberaubende Satz: „Elu ve-elu divre Elohim chajim“ – „Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes.“ Die Wahrheit – liegt nicht in der Mitte, sondern: Die Wahrheit ist plural, wie das Leben plural ist. „Elu ve-elu divre-Elohim chajim“ – Solche Sätze brauchen wir heute so dringend – gesprochen nicht aus einer Beliebigkeit heraus, sondern aus der Einsicht, dass uns die Wahrheit immer schon voraus ist. Die Ethik indes – die Lebenspraxis – sucht und braucht die Entscheidung, ringt um Halacha: Ich muss entscheiden zwischen Krieg und Frieden, zwischen Versklavung und Befreiung, zwischen Abschieben und Beherbergen.

Und darum fährt der Talmud fort: Beide reden sie Worte des lebendigen Gottes, aber: „Die Halacha, d.h. die religiös verbindliche Praxis, entspricht der Lehre des Hauses Hillel“. Warum? Weil Ihr Hilleliten auch die Worte des Hauses Schammai weiter tradiert, sogar an die erste Stelle setzt, als Mahnung gegen alle Einheitsideologien, gegen alle Absolutismen, gegen alle Exklusivismen eines Wahrheitsfetischismus, der uns die Luft zum Atmen nimmt.

Die entscheidenden Lernschritte werden wir nur in Chavruta tun können, im partnerschaftlichen Lernen unter Ungleichen in versöhnter Verschiedenheit. Auch unter Juden und Christen. Geht und zieht lernend die Konsequenzen!

Die KLAK, in deren Auftrag ich hier stehe, tut das schon seit 40 Jahren. Hat es erst jüngst verdichtet in den 3 hebräischen Worten des Logos: harninu gojim amo: „Preist, ihr Völker, sein Volk!“ – oder: „Gebt, ihr Gojim, seinem Volk Anlass zum Jubel!“ „Lebt so, dass der oder die Andere Grund zum Jubel hat!“ Das ist die KLAKsche Wendung der Goldenen Regel. Geht und lernt – ihr Juden und Christen.

Das wäre ein Stückchen Himmel auf Erden, wenn unterwegs auf diesem gemeinsamen Lernweg einer zum anderen sagen könnte: „Ja, du hast mich unter die Flügel der schechina gebracht.“

Zuerst erschienen auf den Seiten der KLAK.

 

Klaus Müller

Prof. Dr. Klaus Müller ist Pfarrer in der badischen Landeskirche und Bereichsleiter für Interreligiöses Gespräch im Evangelischen Oberkirchenrat Karlsruhe und Landeskirchlicher Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch. Er studierte Theologie und Judaistik in Tübingen, Bonn, Heidelberg und Jerusalem. Promotion 1991 in Heidelberg; Magister Artium in Judaistik 1996 an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; 1997 Habilitation und Verleihung der Venia Legendi für das Fach Praktische Theologie in Heidelberg; seit 22.3.2004 außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg. Seit 2015 hat Müller außerdem den Vorsitz der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) inne. Die KLAK koordiniert die christlich-jüdische Dialogarbeit zwischen den rund 20 landeskirchlichen Arbeitskreisen beziehungsweise Beauftragten im Bereich der EKD. In Anerkennung ihrer Arbeit erhielt die KLAK 2017 die Buber-Rosenzweig-Medaille.